Evang.-Luth. Kirchengemeinde Bayreuth-Auferstehungskirche

Die Predigt vom 31. Dezember 1997:
„Wenn die Säulen der menschlichen Identität ins Wanken geraten ...“

Sorry: eine der ersten Predigten mit einem einfachen Editor, deshalb noch im alten Layout, das nur geringfügig geändert ist.


Predigttext

Die Epistel (Lesung aus den Briefen) für den „Altjahrsabend“ (Silvester) aus dem Brief an die Römer im 8. Kapitel:

31 Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein? 32 Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat,
sondern hat ihn für uns alle dahingegeben - wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? 33 Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der gerecht macht. 34 Wer will verdammen? Christus Jesus ist hier, der gestorben ist, ja vielmehr, der auch auferweckt ist, der zur Rechten Gottes ist und uns vertritt. 35 Wer will uns scheiden von der Liebe Christi? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Schwert? 36 wie geschrieben steht (Psalm 44,23): »Um deinetwillen werden wir getötet den ganzen Tag; wir sind geachtet wie Schlachtschafe.« 37 Aber in dem allen überwinden wir weit durch den, der uns geliebt hat. 38 Denn ich bin gewiß, daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, 39 weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.

Predigt

"Lebensangst zwischen den Jahren." Unter dieser Überschrift stand im Kurier vor zwei Tagen folgendes zu lesen: "An den stillen Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr ist die Gefahr von Selbsttötungsversuchen nach Erfahrung von Psychologen besonders groß. Der Offenbacher Psychologe Werner Gross schätzt die Lage in diesem Jahr als besonders schlimm ein. ... Die Menschen denken nach seinen Worten zwischen den Jahren über den Sinn ihres Lebens nach und fragen sich, "was wird auf mich zukommen?" - diese Zukunftsfrage sei mit großen Ängsten verbunden und löse häufig Depressionen aus. ... Damit bestätigte Gross die Angaben der Rettungsdienste, die zwischen den Jahren verstärkt zu sogenannten "psychiatrischen Fällen" gerufen werden - zu Menschen, die sich das Leben nehmen wollen oder damit drohen. ... Die Gefahr eines Selbsttötungsversuches erhöhe sich, wenn die fünf "Säulen der menschlichen Identität" ins Wanken gerieten, ... Dies seien der Beruf, die Familie, der eigene Körper, Freunde und die Religion."

Wenn diese Einschätzung richtig ist, dann müßten sich ja auch viele unter Ihnen, liebe Gemeinde, in diesen Sätzen wiederfinden - mehr oder weniger zumindest. Auf der anderen Seite erinnere ich mich an ein Umfrageergebnis aus diesem Jahr, das ergeben hat, daß gläubige Menschen nachgewiesenermaßen zufriedener und geistig und körperlich gesünder sind als der Durchschnitt der Bevölkerung. Also stimmt es für Sie vielleicht doch nicht?

Ganz egal, was von beiden nun bei Ihnen persönlich mehr Gewicht auf die Waagschale bringen mag: Was könnte es gegen alle denkbare Zukunftsangst stärkere und mutmachendere Worte geben als diese des Apostels Paulus aus der heutigen Epistel:

38 Denn ich bin gewiß, daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, 39 weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.

Wer also diesen Herrn hat und kennt, für den müßte eigentlich alle Zukunftsangst vorbei und erledigt sein. Das ist die christliche Theorie. Und ich hoffe, für möglichst viele von Ihnen auch die Praxis. Und doch entspricht das Leben nicht immer der Theorie. Und die Frage: "Was mag das neue Jahr bringen? Wird es ein besseres Jahr werden als das jetzige?" bewegt doch heimlich oder offen den einen oder anderen. Was könnte ich nun als Prediger, was könnten Sie als Seelsorger im Gespräch mit einem zweifelnden Freund, einer niedergedrückten Bekannten, einer depressiven Nachbarin - was könnten wir alle Besseres tun als diese Worte des Apostels Paulus einfach für uns nachzusprechen und anderen zuzusprechen?

Deswegen klipp und klar das erste: All denen, die sich in ihrer Unsicherheit ein wenig beruhigen wollen mit den überkommenen Methoden wie Blei gießen, sich ein persönliches Horoskop stellen lassen, sich die Karten legen lassen, und was es sonst noch geben mag - all denen sagt der Apostel Paulus: Das braucht Ihr alles nicht. Er sagt nicht mit dem erhobenen Zeigefinger (denn der hilft bei ängstlichen Menschen nichts): Das dürft Ihr nicht. Das ist alles vom Teufel und gegen Gott. Er sagt: Das braucht Ihr nicht. Das Geld könnt Ihr getrost sparen. Die Ergebnisse könnt Ihr in den Müll werfen. Denn etwas Größeres und Gewisseres gibt es nicht als Gottes Versprechen: Niemand kann euch etwas anhaben, nichts kann Euch wirklich schaden, wenn ich bei Euch bin.

31 Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein? 33 Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? 34 Wer will verdammen?

Warum diese deutliche Rede? Der Apostel redet von sich: Er war von verschiedenen Seiten angefeindet. Man ist gegen ihn. Man beschuldigt ihn. Man verdammt ihn. Menschen sprechen ein Urteil gegen ihn oder über ihn. Vor allem in seinen beiden Briefen an die Korinther wird uns davon berichtet. Er scheint körperlich keine besondere Erscheinung gewesen zu sein. Auch seine Predigt, seine Rhetorik ließ anscheinend zu wünschen übrig. Auf solche körperlichen und rednerischen Defizite weisen seine Gegner offenbar genüßlich hin. Darin baden sie sich. Das treten sie breit.

Das ist menschlich und gibt es auch heute: daß einer über den anderen sich den Mund zerreißt, einer den anderen heimlich einordnet oder beurteilt, daß man genüßlich äußere Erscheinungsformen oder körperliche Dinge anderer ausbreitet und breit tritt. Das gibt es, obwohl wir alle die Auslegung Luthers einmal gelernt haben: "Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir unsern Nächsten nicht belügen, verraten, verleumden oder seinen Ruf verderben, sondern sollen ihn entschuldigen, Gutes von ihm reden und alles zum besten kehren." Das gibt es, und es gibt es auch in einer so gewachsenen und ursprünglich verschworenen Gemeinschaft wie in der Saas.

Doch auch innere Stimmen sprechen solche Urteile gegen einen Menschen: "Du kannst nichts. Du taugst nichts. Was bist du denn noch wert? Wozu bist du denn noch nütze?" Oder auch: "Was soll Dir denn die Zukunft noch bringen? Was soll denn das Leben für Dich noch übrig haben?" Diesen Stimmen von außen und auch den Stimmen von innen, die uns nieder machen wollen, die uns mürbe machen wollen, verbietet Paulus den Mund. Oder besser: Er verbietet uns, auf sie zu hören. Er stärkt uns gegen solche Stimmen, indem er darauf verweist, daß niemand außer Gott das Recht hat, über uns Urteile zu fällen. Und sein Urteil steht ein für allemal: Gott hat uns gerecht gemacht. Christus ist gestorben und auferstanden und vertritt uns. Und er ist auch für dich gestorben. Er macht auch dich gerecht. Er vertritt auch dich.

33 Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der gerecht macht. 34 Wer willverdammen? Christus Jesus ist hier, der gestorben ist, ja vielmehr, der auch auferweckt ist, der zurRechten Gottes ist und uns vertritt.

Und wenn nun jemand immer noch zweifelnd fragt: Woher weiß ich denn, daß es mir gilt? Woher weiß ich denn, daß ich zu den Auserwählten gehöre? Wer getauft ist, ist auserwählt. Wer getauft ist, zu dem hat Gott sein Ja gesagt. Basta! 100prozentig und nicht nur 99prozentig. Wir müssen nicht mehr tun, als dazu ja sagen.

35 Wer will uns scheiden von der Liebe Christi? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hungeroder Blöße oder Gefahr oder Schwert?

Was nun die Zukunft, was nun dieses unbekannte nächste Jahr angeht, geht es nun aber nicht um die Frage: Was kann uns denn schon passieren an Gottes Hand? Sondern es geht um die Frage: Egal, was uns auch passieren mag, es wird an Gottes Hand gut hinausgehen und einen Sinn ergeben. Keine Trübsal soll dich von Gott trennen: keine Trauer, keine Depression, keine dunkle Stunde, keine Sorgen. Es gibt sie aber durchaus. Keine Angst soll dich von Gott trennen: keine Angst vor einzelnen Menschen, keine Angst vor Versagen, keine Angst vor der unbekannten Zukunft. Aber es gibt diese Angst. Keine Verfolgung, keine Gefahr, kein Schwert: Das sagt Paulus nicht umsonst, denn die Angst vor dem Tod um des christlichen Glaubens willen war eine durchaus reale Angst in seiner Zeit. Sie ist in bestimmten Ländern dieser Welt immer noch real. Und sie ist auch für Dietrich Bonhoeffer ganz real gewesen, der sich aus seinem Glauben heraus gegen die Naziherrschaft subversiv betätigte, und der zum Jahreswechsel 1944/45 in Berlin im Gestapogefängis dieses vertrauensvolle Lied als Gedicht an seine Verlobte schrieb, das wir anschließend singen werden: "Von guten Mächten wunderbar geborgen." Auch bei Bonhoeffer wird das deutlich und er hat es ja auch am eigenen Leib erfahren müssen: So ist es nicht gemeint, daß einem als Christen, als Getauften gar nichts passieren könnte. So als sei die Taufe eine Art Glücksbringer oder Amulett oder Abwehrzauber, so wie ihn viele bewußt oder unbewußt an diesem letzten Tag des Jahres üben. Sehr wohl kann einem was passieren. Dietrich Bonhoeffer ahnt es schon. Doch er kann es getrost abwarten: "Von guten Mächten wunderbar geborgen erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist mit uns am Abend und am Morgen und ganz gewiß an jedem neuen Tag."

Dieselbe Zuversicht fast in gleichen Worten bei Paulus am Ende des Textes. Jene so unheimlich tröstenden Worte: 38 Denn ich bin gewiß, daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, 39 weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.

Nichts, aber auch gar nichts kann Gottes Ja zu dir rückgängig machen. Nichts, aber auch gar nichts kann Dich von ihm trennen: Weder Tod noch Leben, denn Gott ist Herr über beides. Weder gute Mächte noch böse Mächte, denn Gott ist Herr über beide. Weder bedrängende Gegenwart noch unbekannte Zukunft, denn beide liegen in Gottes Hand. Weder die Mächte in der Höhe, noch die Mächte der Tiefe, denn sie müssen ihm alle gehorchen. Ja überhaupt nichts auf dieser Welt kann sein Ja rückgängig machen, denn alles, was es gibt, ist Kreatur, ist Geschöpf. Es gibt nichts auf dieser Erde, was nicht aus Gottes Hand käme, was er nicht geschaffen hätte. Dem ist nichts, aber auch gar nichts hinzuzufügen. "Von guten Mächten wunderbar geborgen erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist mit uns am Abend und am Morgen, und ganz gewiß an jedem neuen Tag." Amen

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Michael Thein • Pfarrer • Kaulbachstraße 2b• 95447 Bayreuth • Tel. 0921-65378 • Fax 03222-2426857

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