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Predigt
zur Jahreslosung 1998:
»Lebt in der Liebe, wie auch Christus
uns geliebt hat.«
Brief an die Epheser Kapitel 5, Vers 2
"Lebt in der Liebe, wie auch Christus uns
geliebt hat."
Ein Bild zur Losung des Neuen Jahres 1998 habe ich
Ihnen austeilen lassen. Vielleicht haben Sie es schon
angeschaut. Wenn nicht, dann nehmen Sie es doch einmal
zur Hand und versuchen sie zu entdecken, was Sie sehen:
Sehen Sie ein Gesicht oder sehen Sie zwei
Gesichter? Sehen Sie ein Gesicht, das Sie als Betrachter
anschaut? Ein Gesicht, aber mit zwei durchaus
verschiedenen Hälften? Oder sehen Sie zwei Gesichter,
die sich gegenseitig anschauen und einander liebend
zugewandt sind? Egal eigentlich, denn beides hat seinen
Sinn: Liebe hat mit ich und du zu tun. Mit Geben und
Nehmen. Mit Anschauen und Angeschaut werden. Zur Liebe
gehören zwei, aber andererseits auch nur einer: Wer sich
selber nicht lieben und liebevoll anschauen kann, wie
will er andere lieben?
Und: Was sehen Sie in dem Gelben auf dem Bild? Gehört
das Gelbe zu dem einen menschlichen Kopf, gleichwie ein
im Wind flatterndes Band? Oder sehen Sie darin eine
Taube? Eine Taube als das Symbol des Heiligen Geistes, in
dem Gott seinen Menschen nahe ist?
Und dann auch noch die Farben, die zum Nachsinnen
anregen: Das Grün der Hoffnung und das Rot der Liebe.
Entweder beide zusammen in einem Menschen. Oder einander
zugewandt in zweien. Indem die beiden sich einander
liebend nähern, gibt einer dem anderen etwas weiter. Die
Grenze zwischen beiden Hälften oder Personen ist da.
Doch sie ist schmal. Sie ist durchlässig. Sie kann
überbrückt werden.
Das Dunkle und Bedrängende des Lebens ist auch da: Das
Schwarz der Trauer. Das Violett von Buße und Umkehr. Sie
gehören auch zum Leben. Doch das letzte Wort haben sie
nicht. Beide sind sie durchbrochen und aufgebrochen von
dem leuchtenden Gelb der Begeisterung.
"Lebt in der Liebe, wie auch Christus uns
geliebt hat." Von einem lebendigen Geschehen,
von einem Hin und einem Her, von einem Geben und einem
Nehmen, von ich und du redet diese Jahreslosung.
Von solchem Geben und Nehmen redet unsere Bibel auf
Schritt und Tritt. Vor allem in einer bestimmten
Hinsicht: von dem, was Gott schenkt und von dem, was er
von uns erwartet. Und dieses Geben und Nehmen, dieses
Geben und Zurückgeben, dieses Empfangen und Weitergeben
gehorcht in unserer Bibel immer demselben Gesetz, einem
Grundgesetz unseres Glaubens an Gott: Immer und überall
gilt diese Reihenfolge: Zuerst wird gesagt, was Gott
schenkt, und dann, was er fordert. Oder umgekehrt: Gott
fordert nicht von uns, ohne daß er vorher etwas
geschenkt hätte. Oder mit den Worten der Theologen: Erst
kommt das Evangelium, dann das Gesetz.
Ein paar Beispiele zur Verdeutlichung und Erinnerung: Was
sind in Ihren Augen die wichtigsten Forderungen Gottes,
das wichtigste Gesetz? Die Zehn Gebote!? Wie beginnen die
Zehn Gebote? "Ich bin der Herr, dein Gott, du sollst
keine anderen Götter haben neben mir."? Nein. Da
hat Martin Luther in seiner Kurzfassung leider etwas
unterschlagen: "Ich bin der Herr, dein Gott, der
ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft geführt
habe, du sollst keine ..." Am Anfang steht nicht
das Gesetz, sondern das Evangelium. Am Anfang steht der
befreiende Gott. Gott läßt sich erleben als einer, auf
den man sich verlassen kann. Dann erst setzt er seine
Regeln.
Oder einfach noch ein paar weitere Bibelworte: Aus dem
Munde Jesu: "Seid barmherzig, wie auch euer Vater
barmherzig ist." (Lukas 6,36)
"Ein neues Gebot gebe ich euch, daß ihr euch
untereinander liebt, wie ich euch geliebt habe, damit
auch ihr einander lieb habt." (Johannes 13,34)
Oder mit Worten des Apostels Paulus: "Nehmt einander
an, wie Christus Euch angenommen hat." (Römer 15,7)
"Seid aber untereinander freundlich und herzlich und
vergebt einer dem andern, wie auch Gott euch vergeben hat
in Christus." (Epheser 4,32)
Von diesem biblischen Grundgesetz her: Erst schenkt Gott,
dann bittet und fordert er. Erst kommt das Evangelium,
dann das Gesetz. Von dieser geistlichen Logik her müssen
wir diese Jahreslosung erst einmal umdrehen:
"Christus hat uns geliebt: Deshalb lebt in der
Liebe."
Diese Reihenfolge: Höre und begreife, daß Gott dich
liebt, und dann liebe du auch. Diese Reihenfolge lehrt
uns nicht nur die Bibel. Diese Reihenfolge lehrt uns auch
die Alltagserfahrung. Diese Reihenfolge lehren uns die
Psychologen: Nur der kann wirklich auch andere lieben,
der sich selber geliebt weiß. Das gilt von Mensch zu
Mensch und das gilt zwischen Gott und Mensch: Wie will
ein Kind, wie will ein Jugendlicher, der zu Hause nicht
genügend Liebe und Annahme erfährt, selber liebend auf
andere zugehen? Wir haben Jugendliche, wir haben
Konfirmanden unter uns, die uns Schwierigkeiten machen,
und wo man genau diese Frage immer wieder heimlich oder
offen stellt. Junge Menschen auf der Suche nach
Aufmerksamkeit, nach Zuwendung und Liebe.
Und so gilt es auch zwischen Mensch und Gott: Wie will
jemand wirkliche, echte Liebe zu seinen Mitmenschen
entwickeln, wenn er sich nicht seinerseits von Gottes
Liebe umfangen und getragen weiß? Echte Liebe: damit
meine ich nicht jene, so häufige, taktische Liebe, die
nur gibt, damit sie wieder empfängt, und die eigentlich
letztlich auf das Empfangen aus ist. Echte Liebe will von
Herzen schenken, will sich selbst verschenken. Wer solche
Liebe schenken will, muß auch seinerseits immer wieder
Liebe empfangen. Wer Kraft hergeben will, muß auch immer
wieder Kraft empfangen. Wer Geduld für andere braucht,
der muß auch erleben dürfen, daß ein liebender Gott
Geduld mit ihm hat. Und deswegen steht auch dies an
erster Stelle: Christus hat uns geliebt. Gott hat uns in
Christus geliebt.
Wenn diese Liebe Gottes das Handeln eines Menschen
bestimmen soll, ihn seinerseits anstiften und anleiten
zur Liebe, dann muß sie erst erfahren werden. Also: Wo
und wie kann ein Mensch das entdecken, daß Gott ihn
liebt? Zum einen ganz einfach: So wie zwischen Menschen
auch, muß es ihm erst einmal oft genug gesagt werden.
Alle, die Gottes Liebe selbst kennen und erfahren haben,
sollten genau das in passenden Situationen immer wieder
anderen weitersagen: "Gott liebt dich."
Aber weil das Hören allein nicht genügt, wie kann man
Gottes Liebe spüren, erfahren, wahrnehmen? Hier gibt es
sicher keine Patentantworten, denn so einzigartig jeder
Mensch als Geschöpf ist, so einzigartig ist auch die
Beziehung Gottes zu ihm, die ja sein Menschsein ernst
nimmt und nicht außer Kraft setzt.
Eine Möglichkeit: Entdecke die Liebe Gottes zu dir,
indem du auf dein bisheriges Leben zurückblickst.
Entdecke seine guten Führungen. Entdecke, wie sich Wege,
die du für Sackgassen gehalten hast, als überraschende
neue Wege ent- puppt haben. Entdecke, wie gut es dir bei
Licht besehen geht: daß du alles hast, was du brauchst,
daß es Menschen gibt, die dich brauchen und lieben, daß
du gesund bist. Entdecke, wie dann, wo dir wirklich etwas
gefehlt hat, wo es dir wirklich schlecht ging, sich dann
doch immer ein guter und ein gangbarer Weg gezeigt hat.
Eine weitere Möglichkeit: Gehe in die Stille. Entdecke
das, was mit einem Fremdwort "Meditation"
genannt wird. Suche die innere und äußere Ruhe: bei
einem Gang durch die Natur auf einer Bank sitzend, oder
im stillen Kämmerlein vor einer Kerze. Spüre, wie du da
bist, daß es dich gibt, wie die Erde dich trägt, wie
dein Atem geht. Erfahre, wie in solcher Ruhe und Stille
auf einmal Gottes Stimme zu vernehmen ist, die sonst in
den lauten Stimmen um dich herum total untergeht.
Wenn das geschieht, dann ist der Weg nicht mehr weit zu
der anderen Hälfte des Satzes: "Lebt in der
Liebe." Ist das nicht ein schönes Bild: Als
Christ in der Liebe leben, so wie ein Fisch im Wasser
lebt, so wie ein Vogel in der Luft lebt, wie die Laus im
Pelz lebt, ... Die Liebe als das Element, in dem der
Christ lebt, von dem er sich aber auch ernährt. So ist
die Liebe als ein Element nichts Einseitiges: Wenn ich in
der Liebe lebe, heißt es nicht, daß ich dauernd nur
lieben muß, sondern daß ich auch etwas zurückbekommen.
So wie andere von meiner Liebe leben, lebe ich wiederum
von der Liebe anderer. Liebe als Element, in dem man
lebt, ist ein stetiges Geben und Nehmen, ein Empfangen
und Weitergeben. Die Liebe als ein Element, in dem wir
leben sollen: Erst müssen wir ausprobieren und erleben,
daß es trägt, dieses Element, so wie man ausprobieren
und erleben muß, wie das Wasser einen trägt. Soll will
wohl auch die Liebe geübt werden, gelebt und gelernt, so
wie man Schwimmen übt und im Laufe der Zeit immer mehr
Sicherheit gewinnt, Freude empfindet und auch Erfolge
verzeichnen kann. Das muß nicht von heute auf morgen
sein. Das braucht Zeit und darf Zeit haben. Nehmt Euch
diese Zeit. "Lebt in der Liebe, wie auch Christus
uns geliebt hat." Amen
Pfarrer Michael Thein am Neujahrstag 1998
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