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predigt[e].de

Evangelisch-Lutherische Kirchengemeinde Bayreuth-Auferstehungskirche
Pfarrer Michael Thein


Die Weihnachtspredigt vom 24. Dezember 1997: „Nicht schon wieder etwas tun müssen!“


Predigttext


Epistel (Brieflesung) zur Christvesper aus dem Brief an Titus Kapitel 2, Vers 11-14:

„Es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen und erzieht uns, daß wir absagen dem
ungöttlichen Wesen und den weltlichen Begierden und besonnen, gerecht und fromm in dieser Welt
leben und warten auf die Erscheinung der Herrlichkeit des großen Gottes und unseres Heilandes
Jesus Christus, der sich selbst für uns gegeben hat, damit er uns erlöste von aller Ungerechtigkeit.“

Predigt


Ein langes und intensives Gespräch ist es gewesen. In der
Adventszeit eines Abends. Es hat sich einfach so ergeben. Ein
Gespräch mit einem Gemeindeglied. Es ging um das bevorstehende
Weihnachtsfest. Es ging um den Gottesdienst in der Christnacht. Es
ging um die vielfältigen Erwartungen der vielfältigen Menschen,
die in einer solchen heiligen Nacht versammelt sind. Auch um die
Erwartungen, die Menschen an eine Weihnachtspredigt haben.

"Wenn Sie doch das Eine schaffen könnten mit Ihrer Predigt
...", so habe ich es bei meinem Gesprächspartner heraus gehört,
"wenn Ihnen doch dieses Eine zu sagen, gelingen würde, dann wäre
der ganze Gottesdienst gelungen ..." "Rufen Sie einfach dazu auf -
als Pfarrer hört man doch auf Sie in dieser gespannten und
erwartungsvollen Situation ... und auf dem Weg würden alle dann
zwangsläufig noch darüber nachdenken ..."
"Rufen Sie doch auf zu einem guten, friedlichen Miteinander in
der Familie gerade an diesem Abend! Weihnachten ist doch das Fest
des Friedens und das Fest der Familie. Könnte man sich da nicht
wieder einmal bewußt an den Händen fassen, seinen Zusammenhalt
erneuern, allen Streit begraben? Wäre das dann nicht wirklich und
wahrhaftig Weihnachten?"

So habe ich es gehört an jenem Abend. Und es hat mir eigentlich
gefallen. So wären auch meinen eigenen Weihnachtserwartungen. Und
doch war da ein ungutes Gefühl, eine Unsicherheit. Ich habe dann
hinterher versucht, mir Rechenschaft abzulegen über diese ungute
Gefühl: "Reihst du dich mit einem solchen Aufruf zu familiärem
Frieden nicht bloß ein in eine ganze Reihe weiterer Appelle und
Aufrufe?" Wird nicht Weihnachten unversehens zu einem Fest des
erhobenen Zeigefingers? Der Bundespräsident appelliert, die
Bundestagspräsidentin appelliert, der Bundeskanzler appelliert,
der Präsident des Deutschen Roten Kreuzes appelliert, der Vater
appelliert, die Mutter appelliert, der Pfarrer appelliert: "Seid
doch wenigstens an diesem Abend friedlich - und denkt auch an die
Armen."

Hat sich das Weihnachtsfest nicht unter Hand immer mehr zu
einem Fest des "du mußt" und "du solltest doch" entwickelt? Zu
einem Fest, das uns allzu schnell mit einem schlechten Gewissen
und Frust zurückläßt? Da sind ja nicht nur die Appelle der
Politiker, sondern v.a. unsere eigenen, versteckten Selbstaufrufe:
Dieses oder jenes Geschenk müßtest du noch kaufen, den darfst du
nicht vergessen, jenem mußt du unbedingt noch schreiben, dafür
solltest du noch etwas spenden, die Oma im Altenheim müßtest du
besuchen, besser noch: sie zu dir nach Hause holen, die Wohnung
putzen, mit all ein wenig eher fertig sein als letztes Jahr, am
Weihnachtsabend wenigstens ein Lied singen und dich auch ein wenig
unterhalten und nicht gleich den Fernseher anmachen, und vor allem
den Streit begraben zwischen den Generationen.

Ist unter unseren Händen das Fest des Beschenktwerdens zu einem
Fest des Schenkenmüssens, das Fest des freudigen "du darfst" zum
Fest des "du müßtest" und "du solltest" geworden? Hat sich - so
würde der theologisch Geschulte sagen - das Weihnachtsevangelium
in ein Gesetz verwandelt?

Ich meine, die heutige Weihnachtsbotschaft aus dem Brief an
Titus könnte diese ver-rückten Maßstäbe wieder ein wenig
zurechtrücken. Sie könnte wieder neu deutlich machen, worauf es an
Weihnachten ankommt: daß wir von Gott Beschenkte sind, die frei
sein dürfen von allen selbst auferlegten Zwängen.

„Es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen und erzieht uns, daß wir absagen dem
ungöttlichen Wesen und den weltlichen Begierden und besonnen, gerecht und fromm in dieser Welt
leben und warten auf die Erscheinung der Herrlichkeit des großen Gottes und unseres Heilandes
Jesus Christus, der sich selbst für uns gegeben hat, damit er uns erlöste von aller Ungerechtigkeit.“

"Es ist erschienen." Diese drei Worte stehen am Anfang, nicht
nur äußerlich, sondern auch inhaltlich. In ihnen ist mit anderen,
kurzen Worten auf einen Nenner gebracht, was der Evangelist Lukas
in seiner Weihnachtsgeschichte in 20 Versen sagt. Gott ist
erschienen in dieser Welt in diesem Kind in der Krippe. Er ist
erschienen, d.h. Gott hat von sich aus einen Schritt auf uns
Menschen zu gemacht und die Entfernung von uns zu ihm eigenhändig
überbrückt.
Aber welch ein Auftritt! Welch eine Erscheinung! Wenn der
Titusbrief hier das Wort "Epiphanie", "Erscheinung", verwendet,
dann haben die damaligen Leser erst einmal an die großen Auftritte
und Erscheinungen des damaligen Kaisers gedacht: Er "erschien". Er
ließ sich gnädig herab, seinem Volk nahe zu kommen, um ihm
letztlich doch ganz ferne zu bleiben. Vergleichbar den
händeschüttelnden Staatsmännern unserer Zeit, die sich als Zugabe
bei einem Staatsbesuch, umringt von Leibwächtern mit Sonnenbrille
und Knopf im Ohr herablassen zum Volk, das sich mit leuchtenden
Augen glücklich schätzt, einen freundlichen Blick und vielleicht
sogar einen Händedruck zu erhaschen.

Wie anders dagegen die "Erscheinung unseres Heilandes Jesus
Christus, der sich selbst für uns gegeben hat" (so die Worte des
Textes):
In unsere Hand hat er sich gegeben, greifbar ist er geworden,
angreifbar, ja anstößig und mißverständlich in seiner
Armseligkeit. Und die Armseligkeit des Stalles und der Krippe und
die lumpigen, dreckigen Hirten sind nur die äußeren Zeichen dieser
radikalen Menschlichkeit, in der Gott uns hier begegnet. Gott wird
Mensch mit allen Konsequenzen: das verbirgt sich ja hinter dieser
Formulierung "für uns gegeben", die vom Abendmahl her geläufig
ist. Weihnachten und Passion - sie fallen hier zusammen. Der hier
in aller Menschlichkeit zur Welt kommt, ist derselbe, der mit
seiner ganzen Existenz für uns in die Bresche springt bis zum
bitteren Ende am Kreuz. Nicht nur um eine idyllische Geburt und
sentimentale Gefühle geht es an Weihnachten, sondern es geht von
Anfang an ums Leben, um unser Leben - und um seines.
Das ist Weihnachten: Gott schenkt sich mir mit allen
Konsequenzen. Alle Höhen und Tiefen meines Lebens hat er selber
durchlebt, und ich kann diese Höhen und Tiefen an seiner Hand ge-
hen.

"Es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen und
erzieht uns, daß wir absagen dem ungöttlichen Wesen und den
weltlichen Begierden und besonnen, gerecht und fromm in dieser
Welt leben."
Kommt hier nach der befreienden Weihnachtsbotschaft, daß Gott
sich mir schenkt mit Haut und Haaren, nicht doch wieder das "du
mußt" durch die Hintertür? Du muß absagen. Du mußt fromm werden.
Nein! Hören wir genau hin: Nicht darum geht es, als Christen
nun wieder krampfhaft dieses oder jenes zu tun, v.a. dieses oder
jenes zu lassen, was man gerne tun würde. Auch hier, wo die
Weihnachtsbotschaft praktisch wird, lebenspraktisch, alltagsprak-
tisch, gilt doch weiterhin das Evangelium: Gott schenkt etwas,
indem er selbst an mir handelt! Seine Gnade erzieht uns, so wird
es hier ausgedrückt.
Also nicht ich muß an Weihnachten schon wieder etwas tun, muß
mich groben Klotz eigenhändig zurechtschleifen zu einer Form, die
Gott gefällt. Sondern: Gott selber erzieht mich, tut etwas an mir,
arbeitet an mir, verwandelt mich von innen heraus, wenn ich es nur
an mir geschehen lasse.
Das ist die Erfahrung vieler, die sich auf diesen
menschgewordenen und menschlichen Gott eingelassen haben: Es tut
sich etwas bei ihnen, es kommt etwas in Gang durch seinen
lebenschaffenden und verändernden Heiligen Geist. Leben muß nicht
stehen bleiben. Verhärtungen dürfen aufbrechen. Neue Inhalte und
Ziele tun sich auf.

Sich auf diesen menschgewordenen und menschlichen Gott
einlassen: Das bedeutet gerade nicht, wie viele meinen, und wovor
sie dann Angst haben, eine Einschränkung meiner persönlichen
Freiheit: daß mir nun gerade das verboten sei, was dem Leben die
Würze verleiht. Wenn es hier heißt, Gott erziehe und helfe dazu,
weltliche Begierden hinter sich zu lassen, dann geht es nicht
darum, daß mir die Freude und die Lust am Leben verboten würde. Es
geht und jenen unseligen Wettlauf nach möglichst viel und immer
neuem Lustgewinn: ein Wettlauf, der letztlich nicht satt macht,
sondern immer neue Bedürfnisse hervorbringt, so, wie wenn man eine
süße Limonade trinkt und anschließend noch mehr Durst hat als
zuvor.

Statt dessen, so heißt es hier, soll Gott uns helfen, besonnen,
gerecht und fromm zu leben. Dazu man wissen, daß mit diesen drei
Stichworten die üblichen Tugenden der damaligen genannt werden. In
einer nichtchristlichen, vom griechischen Denken bestimmten Umwelt
lebten die Empfänger und Leser des Titusbriefes.
Also: Als stinknormale, der gegenwärtigen Welt zugewandte
Menschen will Gott die Christen also haben, nicht, wie manche
meinen, als abgehobene, immer einige Zentimeter über dem Boden
schwebende Zeitgenossen. Normale Menschen, die aber sehr wohl ihre
Grenzen kennen und annehmen: ihre eigenen persönlichen Grenzen,
wenn es heißt "besonnen"; ihre Grenzen den Mitgeschöpfen ge-
genüber, wenn es heißt "gerecht"; und ihre Grenzen ihrem Schöpfer
gegenüber, wenn es heißt "fromm".

Hier könnte ich schließen, wäre da nicht eine schmerzenden
Wunde unseres christlichen Glaubens - eine Wunde, die auch der
Titusbrief nicht verschweigt: Trotz all dem, was Gott der
Menschheit geschenkt hat, damals in jener Nacht, als Augustus
Kaiser und Quirinius Statthalter war, steht doch die endgültige
"Erscheinung der Herrlichkeit des großen Gottes und unseres Hei-
lands Jesus Christus" (so die Worte des Textes) noch aus. Das ist
und bleibt die schmerzende Weihnachtswunde, daß der Friede auf
Erden, den die Engel den Hirten verkündeten, noch immer aussteht.
Auch an diesem Weihnachtsfest wird die Friedensbotschaft der Engel
von den Menschen wiederum ganz frech Lügen gestraft.
So bleiben Christen bei allem, was Gott immer wieder an
Schrittchen des Friedens möglich macht und schenkt, Wartende und
Hoffende. Doch, und darauf käme es auch in dieser Weihnacht an:
mit jener ersten Heiligen Nacht hat Gott eine Entwicklung losge-
treten, die niemand mehr aufzuhalten vermag. Wir müßten weiter
nichts tun, als uns hineinnehmen zu lassen in diese weihnachtliche
Dynamik, uns glaubend mitreißen lassen, und Gott geduldig an uns
wirken lassen. Warum sollte dann nicht auch von innen heraus und
ohne Krampf möglich werden, womit wir dieses Nachdenken begonnen
haben: Friede und Verständnis in der Familie.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre
eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

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Michael Thein • Pfarrer • Kaulbachstraße 2b• 95447 Bayreuth • Tel. 0921-65378 • Fax 03222-2426857

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