Die
Weihnachtsgeschichte für Erwachsene
"Mensch,
werde Mensch, weil auch Gott Mensch geworden ist." Die heilige
Nacht ist vorbei. Gott ist dir und mir ein Mensch geworden. Werde
du nun selbst Mensch für andere. Als eine solche herzliche
Einladung verstehe ich die Weihnachtsbotschaft im Brief des Paulus
an seinen Mitarbeiter Titus:
4 Als aber erschien die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes,
unseres Heilandes, 5 machte er uns selig ...
Hier steht nichts von Engeln und Hirten, von Ochs und Esel, von
Krippe und Stall, von einem kleinen Kind, ja nicht einmal etwas
von einer Menschwerdung. Am Morgen nach der heiligen Nacht kommt
die Weihnachtsgeschichte für die ausgeschlafenen Gottesdienstbesucher,
sozusagen die Weihnachtsgeschichte für Erwachsene:
Das Christkind und der Kaiser
"Als
aber erschien", diese drei Worte sind die ganze Weihnachtsgeschichte.
Doch wer damals genau hinhörte, hat mehr gehört als nur
diese drei Worte, denn: "Er erschien" - das war damals
ein Spezialbegriff für etwas ganz anderes, nämlich für
das Auftreten des als Gott verehrten Kaisers bei seinen Untertanen.
"Epiphanie" mit dem griechischen Fremdwort.
Wie aus einer anderen Welt erschien der Kaiser damals seinen Untertanen.
Wie aus dem Himmel kommend begab er sich in eine bestimmte Ecke
seines Reiches. Er ließ sich gnädig herab. Er gab sich
die Ehre. Er war da, aber er war eigentlich nicht da: Er war seinen
Menschen nicht nah. Er war oben, sie waren unten. Er war keiner
von ihnen. Wer vor ihm stand, senkte seinen Blick und warf sich
zu Boden.
So nicht!
So
nicht, sagt Paulus. So ist Gott nicht erschienen. So ist Gott nicht
Mensch geworden: Nicht wie ein Staatsmann, der sich gnädig
herablässt zum jubelnden Volk, das vielleicht extra herbeigekarrt
worden ist und dafür Urlaub bekommen hat.
Nicht wie die Päpste des Mittelalters, die sich in einer Sänfte
zu ihren Gläubigen haben tragen und Ring oder Füße
küssen lassen. Oder die noch bis in das vergangene Jahrhundert
hinein die dreifache Krone getragen haben als Zeichen ihrer Herrschaft
nicht nur über die Kirche, sondern über die ganze Welt.
Auch nicht wie ein Geschäftsführer oder Vorgesetzter,
der sich bei einer Weihnachtsfeier oder einem Betriebsfasching leutselig
unter die Mitarbeiter mischt, um dann am Montag sich wieder unnahbar
in seiner Chefetage zu verschanzen.
Auch nicht wie jene schulterklopfende Verbrüderung und Menschlichkeit,
wie sie manchmal beim Alkohol zustande kommt, und am nächsten
Tag will der Verbrüderte nichts mehr davon wissen.
Ein
König und doch nicht
"Als aber erschien die Freundlichkeit und Menschenliebe
Gottes, unseres Heilandes."
Jesu Erscheinung war eine ganz andere, genau das Gegenteil dessen,
was man damals vom göttlichen Kaiser gewohnt war: armselig
kam er, nackt,
ganz menschlich und ganz nah. Das ist das Geheimnis, der Kern der
Weihnachtsgeschichte. Ein Herrscher? Ein König? Ja! Aber doch
ganz ganz anders. Er war unten. Er war einer der Ihren. Und der
ließ sich anfassen und in die Augen schauen.
Sollte jemand, wenn im Laufe seines Lebens sein Kinderglaube erwachsener
wird, auf einmal Schwierigkeiten bekommen mit dieser Geschichte
von Ochs und Esel: ... Oder besser, sollte jemand Schwierigkeiten
bekommen mit der idyllischen Vermarktung dieser Geschichte: Dann
lasst die Geschichte, das Drumherum zur Not fahren, aber behaltet
diesen Kern, wie radikal und kompromisslos sich Gott darin dir und
mir zugewandt hat.
Weihnachten
im Alltag
"Als aber erschien die Freundlichkeit und Menschenliebe
Gottes, unseres Heilandes."
"Freundlichkeit", "Menschenliebe". Paulus kann
sich so kurz fassen und so knapp ausdrücken, weil seine Hörer
all die Geschichten ja kennen. Die Jesuserzählungen des Neuen
Testaments füllen diese beiden Worte mit Inhalt. Allesamt Geschichten,
wie Gott sich in Jesus den Menschen seiner Zeit zugewandt hat: den
körperlich Kranken, den seelisch Kranken, den
Ausgestoßenen, den in der Gesellschaft an den Rand gedrängten,
denen, die keine Leistung bringen konnten, und von denen man auch
gar keine mehr erwartete. Da wird es jedesmal Weihnachten für
die mit Menschlichkeit und Nähe Beschenkten.
Weihnachten, Menschwerdung im dunklen und kalten Alltag, nicht nur
in der einen idyllischen Heiligen Nacht: Das war dem ältesten
Evangelisten, Markus, offenbar so wichtig, dass er uns in seinem
Evangelium gar keine
Weihnachtsgeschichte hinterlässt.
Jesus der „Heiland“
Zum
Heiland wurde Jesus durch diese Menschenliebe und Freundlichkeit,
heißt es hier. Heiland, dieses Wort hat Martin Luther bei
seiner Bibelübersetzung ausgewählt, weil es alle Hoffnungen
der Menschen seines Mittelalters enthielt: Einer der Heil bringt,
der alles wieder heil macht, der die Sehnsüchte der Menschen
erfüllt, die Sehnsüchte nach Frieden, nach Gerechtigkeit
... Nicht umsonst hat sich ein anderer Messias vor 70 Jahren mit
dem Wort "Heil" grüßen lassen.
Heiland. Im Griechischen steht hier ein Wort, das auf deutsch wörtlich:
"Herausreißer, Retter" heißt. "Soter",
so ließ sich damals der Kaiser anreden, wenn er als göttlicher
Wohltäter in einen Landstrich seines Reiches kam und Wohltaten
verteilte.
"Retter", diese Bezeichnung nahmen damals die Christen
ganz bewusst auf. Sie nahmen sie sozusagen dem Kaiser weg und gaben
sie ihrem Herrn Jesus. Für die Christen damals ein Bekenntnis
ihres Glaubens, für die Herrschenden natürlich Majestätsbeleidigung
und ein Beweis politischer Unzuverlässigkeit.
Aber diese Nähe und Menschlichkeit Gottes, die sie in diesem
Jesus erfahren hatten, machte sie stark, auch die Folgen zu tragen,
die dieser
Protest gegen die menschlichen Herrscher mit sich brachte.
Dem Menschen ein Mensch werden
"Menschlich",
damit sind wir beim springenden Punkt: Die menschlichen Herrscher
damals – wie es heute ist, wäre zu überprüfen
– sind Menschen gewesen, aber ob sie menschlich in einem tieferen
Sinn waren, das ist die Frage.
Das ist aber nun auch die Frage an uns, die wir uns Christen nach
diesem Christus Jesus nennen und an Weihnachten seine Menschwerdung
und Menschlichkeit feiern.
Die Weihnachtsbotschaft von der Menschwerdung Gottes will uns so
durchdringen, dass auch wir Menschen werden: menschliche Menschen,
echte Menschen, von der Menschenliebe und Freundlichkeit dessen
geprägt, der damals erschien. Zu Menschen werden für andere,
als Mensch greifbar werden, als Mensch erkannt werden, als Mensch
erlebt werden, anfassbar werden und nahe, so wie er damals.
Gott wird Mensch und verlässt seinen Himmel: Das lädt
uns ein, auch unsere Himmel zu verlassen: Die sog. "besseren
Kreise", in denen mancher verkehrt und den Kontakt zu den Menschen
verliert.
Die
Schneckenhäuser, in die sich manche zurückgezogen haben
und sich vor dem Mitmenschen verstecken.
Die
Einsamkeit, in die sich manche zurückgezogen haben und sich
darin
bemitleiden lassen.
Die
Eigenbrötelei, in der es sich manche eingerichtet haben, so
dass keiner
mehr ihnen etwas recht machen kann.
Gott wird Mensch und verlässt seinen Himmel: Das lädt
uns ein, einander zum Mitmenschen werden: in der Ehe, in der Familie,
in der Nachbarschaft, unter Freunden und Bekannten, im Berufsleben,
im Vereinsleben, in der Gemeinde.
Und wenn nun jemand sagt: Das ist ja alles eigentlich ganz klar.
In der Theorie weiß ich es auch. Aber, lieber Gott, du kennst
doch meinen
Partner, du kennst doch meinen Nachbarn, du kennst doch meinen Kollegen
...
Ich traue dieser Botschaft von der Menschenliebe und Freundlichkeit
Gottes so viel verändernde Kraft zu. Kraft, die noch gar nicht
ausgeschöpft ist. Wenn das Weihnachtsfest und die Weihnachtsgeschichte
nicht jedes Jahr neu die Chance hätten, Menschen zu verändern,
würde es ja reichen, wenn man es einmal feiert und nicht alle
Jahr wieder. Immer wieder neu können wir einander Menschen
werden, weil Gott uns Mensch geworden ist.
|