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predigt[e].de

Die Predigt vom 7. Juni 1998:
»Wann haben Sie zum letzten Mal gestaunt?«


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Kirchenjahr

  Die evangelische Kirche beging den Sonntag Trinitatis ("Dreieinigkeitsfest"), bei dem es um das Geheimnis Gottes geht. Für Paulus geht es weniger darum, Gott denkerisch als vielmehr staunend zu erfassen. Brief an die Römer Kapitel 11, Verse 33-36:

Predigttext

Sie können Texte auch online nachlesen. Bibellinks finden Sie unter Glaube und Leben.

  33 O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! 34 Denn »wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen?« (Jesaja 40,13) 35 Oder »wer hat ihm etwas zuvor gegeben, daß Gott es ihm vergelten müßte?« (Hiob 41,3) 36 Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.

Predigt

  Kann man am Sonntag nach der ICE-Katastrophe von Eschede eine Predigt halten, ohne auf diese Tragödie einzugehen? Ja und nein.

Nein, wenn wir über den bisher 102 Toten z.B. die 8.500 Menschen vergessen würden, die im vergangenen Jahr im Straßenverkehr starben.
Nein, wenn wir in diesen Tagen nur nach deutschen Todesopfern schauen würden, und darüber die Opfer der Vertreibungen im Kosovo oder die Toten des jüngsten Krieges zwischen Eritrea und Äthiopien vergessen würden. Das eine ist so schlimm wie das andere.

Und seien wir ehrlich: Je weiter eine Katastrophe von uns weg ist, desto schneller gehen wir wieder zur Tagesordnung über. Wir sind für kurze Zeit erschrocken. Aber weil uns die Nachrichten einen Schreck nach dem andern liefern, können wir uns gar nichts mehr so richtig zu Herzen nehmen, es sei denn, wir sind persönlich betroffen. Und auf der anderen Seite hat dieses Unglück die Menschen bewegt, und man kann am Sonntag darauf nicht so tun, als sei nichts gewesen.

Am Tag nach der Katastrophe schon stand nicht so sehr die Frage nach den Opfern im Vordergrund, sondern die Frage nach dem warum. Warum geschah es? Wie konnte es dazu kommen? Die andere große Warum-Frage "Warum läßt Gott so etwas zu?" wird nicht in den Medien gestellt, hat aber vielleicht doch manchen im Herzen bewegt.

Scheint da nicht der uns heute aufgetragene Predigttext etwas dazu zu sagen? 33 O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! 34 Denn »wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen?« (Jesaja 40,13) 35 Oder »wer hat ihm etwas zuvor gegeben, daß Gott es ihm vergelten müßte?« (Hiob 41,3) 36 Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen. "Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege!"

Damit wir aber nun einen solchen Satz nicht auf die aktuelle Frage hinbiegen, zuerst: Was meint Paulus damit? Worauf bezieht er sich?

Sein Staunen über Gott bezieht sich auf den ganzen Zusammenhang zuvor in den Kapiteln 9-11 des Briefs an die Römer. Die vorgelesenen Zeilen sind nur die letzten zusammenfassenden Verse davon. Drei Kapitel lang macht sich Paulus engagiert und schmerzlich Gedanken über seine jüdischen Glaubensbrüder, die Jesus nicht als den Messias, den von Gott Gesandten annehmen können und wollen. Was ist nun, so fragt er. Hat Gott das Volk Israel, dem er doch so viel versprochen hat, damit fallen lassen? Sind die Juden vom Heil endgültig ausgeschlossen, das ja nur im Glauben an diesen Jesus geschenkt wird? Und seine Antwort nach drei Kapiteln Kampf und Überlegung heißt: nein. Nein, Gott hat das jüdische Volk nicht abgeschrieben. Er wird auch für sie am Ende einen Weg finden.

In einem positiven Sinn also staunt Paulus hier über die Wege Gottes. In einem positiven Sinn bezeichnet er Gottes Gerichte als unbegreiflich und seine Wege als unerforschlich. Er fragt nicht rückwärtsgewandt und resignierend: „Wie kann Gott das zulassen?” Er staunt über den überraschenden und unbegreiflichen Gott, der am Ende doch immer einen Weg findet.

Und so kann wohl jede Katastrophe von zwei Seiten angesehen werden: mit Erschütterung über die Opfer und mit Staunen über die, die überraschend davon gekommen sind. Deswegen ist in der Berichterstattung auch zu Recht angemerkt worden, daß es auch ein Wunder ist, daß es bei einer Geschwindigkeit von 200 Km/h nicht noch viel mehr Todesopfer gegeben hat. Ohne also die eine Seite, die Erschütterung, gering zu schätzen, möchte ich aufgrund des Predigttextes deswegen heute die andere Seite der Medaille, das Staunen, mehr betonen.

Es ist ein Staunen, das vielen schon im eigenen Leben begegnet ist. Das Staunen darüber, wie Gott einen Weg findet, auf dem es letztlich gut hinausgeht. Das Staunen darüber, daß die anfangs unverständlichen Wege Gottes nicht so sehr Sackgassen, sondern Umwege sind.
Das ist die Botschaft des Liederdichters Paul Gerhardt in seinem Lied "Befiehl du deine Wege": "Der Wolken, Luft und Winden gibt Wege, Lauf und Bahn, der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann." Oder in Vers 8: "Ihn, ihn laß tun und walten, er ist ein weiser Fürst und wird sich so verhalten, daß du dich wundern wirst, wenn er, wie ihm gebühret, mit wunderbarem Rat das Werk hinausgeführet, das dich bekümmert hat."

Von diesem Staunen her lehnt Paulus auch alle allzu klugen Antworten auf die Warum-Frage ab: "Wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen?"

Wer allzu schnell allzu kluge Antworten findet, sagt Paulus, meint wohl gar, er habe Gott über die Schulter schauen dürfen oder Gott hätte ihn besser vorher um Rat fragen sollen.

Daß es dem Paulus hier um das Staunen geht, läßt sich allein an einem Wort ablesen. Ein Wort ist das Schlüsselwort unseres heutigen Predigttextes. Es ist das kürzeste Wort der Bibel überhaupt. Ein Wort, das in allen Sprachen existiert und verstanden wird, weil es aus dem menschlichen Herzen herauskommt: Das Wort "O".

So beginnt Paulus: "O welch eine Tiefe des Reichtums."
Das Wort "O" ist für alle Sprachen verständlich der Ausdruck des Staunens. "O", das kommt von dem runden Mund und den runden Augen, die alle Menschen auf der Welt haben. "O" – das erinnert v.a. an Kinder. Keiner kann so schön und von Herzen kommend "O" sagen wie die Kinder. Da redet nicht nur der Mund, sondern auch die Augen und die Hände: Wenn sie z.B. Beispiel das Licht einer Kerze sehen, oder die vielen Lichter eines Christbaums, oder ein überraschendes schönes Geschenk, oder überhaupt etwas Neues, Eindrückliches, was ihnen in ihrem kurzen Leben noch nicht begegnet ist.

Können Erwachsene noch so richtig staunen wie die Kinder? Können Erwachsene noch so richtig von Herzen kommend "O" sagen? Überlegen Sie doch einmal, wo Ihnen das letzte "O" entschlüpft ist. ... "O welch eine Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes."
Um das Staunen über Gott geht es Paulus. Und dementsprechend ist auch seine Sprache. Es ist hier nicht die Sprache der scharfen Überlegung und der sachlichen Darstellung, (die er ja übrigens hervorragend beherrscht hat,) sondern die Sprache des Staunens, des Lobens, des biblischen Lobpreises. Worte, die weniger aus dem Verstand, sondern aus dem Herzen kommen.

Und so ist ein zweites, sehr wichtiges Wort das letzte des Abschnittchens: "Amen". Amen heißt: "So sei es." Amen. So bekräftigt ein Zuhörer die Worte eines anderen und macht sie auch zu seinen Worten. Amen. So sollten die Gemeindeglieder in Rom antworten, nachdem ihnen im Gottesdienst dieser Abschnitt des Paulusbriefes vorgelesen wurde. Auch sie sollten Ja sagen zu dem Staunen des Paulus über Gott. Sie sollten sich von diesem Staunen anstecken lassen und in es einstimmen.

"O. Amen." So könnte man also in der kürzesten Form den heutigen Predigttext zusammenfassen: Eine Einladung zum Staunen, eine Einladung zum Einstimmen in das Staunen über Gott.

Ausgewählt ist dieser Predigttext für den heutigen Trinitatis-Sonntag, den Sonntag der Dreieinigkeit, an dem wir eingeladen werden, über Gott nachzudenken und von ihm zu sprechen. Von ihm, dem einen Gott, der uns doch biblisch in einer dreifachen Weise begegnet.
Von diesen Paulusworten her könnte man nun sagen: Die rechte Art, von Gott zu reden, ist nicht so sehr, mit klugen Worten über ihn zu reden, sondern mit staunenden Worten betend zu ihm zu sprechen. Wir sollen Gott weniger denkend erkennen als staunend erfahren.

So will ich Sie jetzt noch ganz bewußt zum Staunen einladen und zum Danken anstiften im Blick auf Ihr eigenes Leben. Letztlich kann man ja immer nur über Gottes Wege mit sich selbst staunen, nicht so sehr über seine Wege mit anderen. Denn was mir staunenswert und dankenswert ist, muß es für den anderen noch lange nicht sein. Deswegen für die meditative Musik, die sich immer an die Predigt anschließt, noch zwei Fragen zum Nach- und Weiterdenken:
Überlegen Sie z.B.: Wo hätten Dinge in Ihrem Leben nur ein klein wenig anders ausgehen müssen, und dann wären Sie heute überhaupt nicht mehr hier?
Oder überlegen Sie: Wo haben Sie gemeint, Sie wären im Leben in einer Sackgasse gelandet und alles sei aus, und dann hat sich alles nur als ein Umweg zu einem guten Ziel entpuppt? ...

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Michael Thein • Pfarrer • Kaulbachstraße 2b• 95447 Bayreuth • Tel. 0921-65378 • Fax 03222-2426857

mic.thein@t-online.de www.michael-thein.de