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Die Predigt vom 18. Oktober 1998: »Neu werden?!«


Kirchenjahr

Die evangelische Kirche beging den 19. Sonntag nach Trinitatis. Epistellesung und Predigttext kamen aus dem Epheserbrief Kapitel 4:

Predigttext

22 Legt von euch ab den alten Menschen mit seinem früheren Wandel, der sich durch trügerische Begierden zugrunde richtet. 23 Erneuert euch aber in eurem Geist und Sinn 24 und zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit. 25 Darum legt die Lüge ab und redet die Wahrheit, ein jeder mit seinem Nächsten, weil wir untereinander Glieder sind. 26 Zürnt ihr, so sündigt nicht; laßt die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen, 27 und gebt nicht Raum dem Teufel. 28 Wer gestohlen hat, der stehle nicht mehr, sondern arbeite und schaffe mit eigenen Händen das nötige Gut, damit er dem Bedürftigen abgeben kann. 29 Laßt kein faules Geschwätz aus eurem Mund gehen, sondern redet, was gut ist, was erbaut und was notwendig ist, damit es Segen bringe denen, die es hören. 30 Und betrübt nicht den heiligen Geist Gottes, mit dem ihr versiegelt seid für den Tag der Erlösung. 31 Alle Bitterkeit und Grimm und Zorn und Geschrei und Lästerung seien fern von euch samt aller Bosheit. 32 Seid aber untereinander freundlich und herzlich und vergebt einer dem andern, wie auch Gott euch vergeben hat in Christus.

Predigt

Säuglinge taufen?

Genau 779 Kinder sind über dem Taufstein dieser Kirche seit dem Jahr 1962 getauft worden. Und die allermeisten von ihnen sind Säuglinge, mit einem alten Begriff "unmündige" Kinder gewesen. Es gibt andere christliche Kirchen, die das nicht tun. Sie taufen Menschen erst, wenn sie sich selbst entscheiden und selbst über ihren Glauben Auskunft geben können. So ist es wohl auch in der ersten Christenheit die Regel gewesen.

Ich stehe als Pfarrer hinter der Kindertaufe. D.h. ich begrüße unsere Tradition, schon Säuglinge zu taufen, ohne daß sie sich dazu äußern können. Nirgends wird so deutlich wie da, daß Gott uns annimmt, ohne daß wir irgendeine Vorleistung dazu erbringen könnten. Keiner von uns kann sich die Liebe Gottes verdienen, genauso wie die Liebe der Eltern zu einem neugeborenen Kind reines Geschenk ist.

Doch ein gravierendes Problem ist natürlich mit unserer Säuglingstaufe verbunden: Man kann bei uns getauft sein, ja man kann alt werden und auch sterben, ohne je so richtig begriffen zu haben, wie wichtig man Gott ist. Man kann alt werden, ohne dieses Ja, das Gott zu einem in der Taufe gesprochen hat, je so richtig gehört zu haben. Man kann alt werden, ohne je begriffen zu haben, daß man durch seine Taufe in eine Gemeinschaft hineingestellt wir, in der man mit seinen Gaben und Fähigkeiten nötig gebraucht wird.

Oder mit anderen Worten: Christsein kann für einen als Säugling Getauften ein Leben lang eine Sache des Verstandes und des Hörensagens bleiben, ohne je zu einer Sache des Herzens und der persönlichen Überzeugung zu werden.

Taufe als Neuwerden

Und genau das ist das heimliche Thema der Worte aus dem Epheserbrief, die wir vorhin als Epistel gehört haben: Wer von Herzen begriffen hat, daß Gott in der Taufe ja zu ihm sagt, der kann, ja der wird auch ja sagen zu den Menschen um sich herum und dementsprechend leben. Und dann folgen die Beispiele: In Wahrheit miteinander umgehen, sich nicht zum Zorn hinreißen lassen, dem andern nichts wegnehmen, nicht blöd und lieblos daherreden, dem andern vergeben. Wenn ich mir der Liebe Gottes zu mir wirklich im Herzen bewußt werde, dann führt das bei mir auch zu einer neuen Art von Leben. Das verbirgt sich hinter dem Bild vom Ablegen des alten Menschen und vom Anlegen des neuen.

22 Legt von euch ab den alten Menschen mit seinem früheren Wandel. 23 Erneuert euch aber in eurem Geist und Sinn 24 und zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit.

Liebe als Nehmen und Geben

Ist das nicht so: Nur wer selber bejaht und gewollt ist, wird andere bejahen. Nur wer selber angenommen ist, wird andere annehmen. Nur wer selber Liebe erfahren hat, wird anderen Liebe weitergeben. Wenn es also darum geht, den Kindern und Jugendlichen diese christlichen Werte weiterzugeben, muß vor der Belehrung die Liebe stehen. Es stimmt ja alles, es ist ja alles wahr und geradezu vernünftig, was hier im Epheserbrief an Weisungen für das menschliche Zusammenleben steht. Doch so lange es nur ein Wissen aus einem schlauen alten Buch ist, oder so lange es nur wie eine Moralpredigt daher kommt, wirkt es nicht. Erst jene Dankbarkeit und Gelassenheit, die der kennt, der von Gott gehalten ist, gibt den entscheidenden Anstoß für ein neues und anderes Handeln. Schauen wir uns diese Weisungen für das Zusammenleben doch im Einzelnen an:

Wahrhaftigkeit

25 Darum legt die Lüge ab und redet die Wahrheit, ein jeder mit seinem Nächsten, weil wir untereinander Glieder sind.

Das ist ja eigentlich schon von der Vernunft her verständlich: In einer Gemeinschaft von Menschen, die zusammengehören, wirkt die Unwahrheit als Spaltpilz. Unwahrheit zerstört Gemeinschaft. Wenn ich mich nicht mehr darauf verlassen kann, daß der andere wirklich ehrlich zur mir ist, dann muß ich auf einmal sehr vorsichtig und zurückhaltend werden im Umgang mit ihm. Doch wenn junge Menschen zuhause oder anderswo dann am Tun anderer ablesen können, daß man es ja besser mit der Wahrheit nicht so genau nimmt, wenn man etwas erreichen will, was sollen dann noch gutgemeinte Worte erreichen.

Umgang mit dem Zorn

26 Zürnt ihr, so sündigt nicht; laßt die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen, 27 und gebt nicht Raum dem Teufel.

Steckt darin nicht auch tiefe Lebenserfahrung, ehrliche Einsicht in das alltägliche Leben? Es gibt Zorn. Es gibt Zorn auch bei glaubenden Menschen, auch bei Christen. Wenn Gott mein Herr wird, dann nimmt er mir ja nicht meine Emotionen, meine Gefühlswelt weg und macht mich zu einer willenlosen Marionette. Ich kann, ich darf, ja ich muß manchmal auch als Christ aus der Haut fahren, wenn mir etwas wichtig ist. Aber Zorn soll nicht zur Sünde führen. D.h. er soll nicht Gemeinschaft zerstören und unversöhnlich machen. Der andere hat ein Recht zu hören, was mich zornig gemacht hat, und er hat ein Recht auf eine Entschuldigung, wenn ich zu weit gegangen bin. Und das am besten noch am selben Tag, so heißt es hier. Denn sonst wird dem Teufel Raum gegeben. Auf deutsch: Wo Zorn unbesprochen stehen bleibt, entsteht schnell Haß. Und in dieser Atmosphäre geschieht immer nur weiter Böses. Der Teufel, der Zerstörer von Liebe und Gemeinschaft, der Erfinder des Teufelskreises macht sich ans Werk.

Wie verhält sich nun diese Weisung, über dem Zorn keine Nacht vergehen zu lassen, mit der anderen Weisheit, erst einmal eine Nacht lang darüber zu schlafen? Ich meine, beides widerspricht sich nicht, weil es zwei verschiedene Dinge sind: Eine Nacht darüber schlafen soll der, der sich von einem anderen verletzt fühlt. Er soll aus Zorn und Schmerz heraus nicht überreagieren. Noch am selben Tag hingehen, so steht hier, soll der, der selber einem anderen etwas angetan hat, und es nach seinem Tun merkt.

Das Alte zählt nicht mehr

28 Wer gestohlen hat, der stehle nicht mehr ...

Ein barmherziges Wort: Unter Christen darf die Vergangenheit eines Menschen, der sein Leben geändert hat, ruhen. Sie soll kein Thema sein, wenn ein Mensch deutlich ein anderer geworden ist. So wie Gott das Alte vergibt, wenn jemand neu handelt, so sollen auch wir es im Umgang mit Menschen tun. Ich weiß, daß das nicht leicht ist in einer Lebens- und Siedlungsgemeinschaft, wo einer den anderen allzugut kennt mit allen seinen Jugendsünden. Und was man noch nicht weiß, bekommt man schnell zugetragen. Aber entscheidend muß sein, was jemand heute für ein Mensch ist.

Sokrates und die drei Siebe

29 Laßt kein faules Geschwätz aus eurem Mund gehen, sondern redet, was gut ist, was erbaut und was notwendig ist, damit es Segen bringe denen, die es hören.

Die beste Auslegung dazu ist eine kleine alte Geschichte vom griechischen Philosophen Sokrates. Vielleicht kennen Sie sie schon. Macht nichts:

Aufgeregt kam jemand zu Sokrates gelaufen. „Höre, Sokrates, das muß ich dir erzählen, wie dein Freund ..." „Halt ein!" unterbrach ihn der Weise, „hast du das, was du mir sagen willst, durch die drei Siebe geschüttelt?" „Drei Siebe?", fragte der andere voll Verwunderung. „Ja, mein Freund, drei Siebe! Laß sehen, ob das, was du mir erzählen willst, durch die drei Siebe hindurchgeht. Das erste Sieb ist die Wahrheit. Hast du alles, was du mir erzählen willst, geprüft, ob es wahr ist?" „Nein, ich hörte es erzählen, und ..." „So, so. Aber sicher hast du es mit dem zweiten Sieb geprüft, es ist das Sieb der Güte. Ist das, was du mir erzählen willst, wenn schon nicht als wahr erwiesen, wenigstens gut?" Zögernd sagt der andere: „Nein, das nicht, eher im Gegenteil ..." „Dann", unterbrach ihn der Weise, „laß uns auch das dritte Sieb noch anwenden und laß uns fragen, ob es notwendig ist, mir das zu erzählen, was dich so erregt." „Notwendig nun gerade nicht ..." „Also", lächelte Sokrates, „wenn das, was du mir erzählen willst, weder wahr noch gut noch notwendig ist, so laß es begraben sein und belaste dich und mich nicht damit!"
(W.Hoffsümmer 255 Kurzgeschichten, S. 86-87)

Neuwerden durch Annahme und Liebe

32 Seid aber untereinander freundlich und herzlich und vergebt einer dem andern, wie auch Gott euch vergeben hat in Christus.

Noch einmal wird hier am Schluß das Geheimnis des neuen Handelns angesprochen: Nicht dadurch werden Menschen neu, daß man ihnen sagt: "Das darfst du nicht und jenes." Oder: "Reiß dich jetzt endlich zusammen." Sondern nur dadurch werden Menschen neu, wenn sie sich angenommen und bejaht wissen: von Menschen und von Gott. So wird der vergeben können, der von anderen Menschen Vergebung erfahren hat. Der wird freundlich und herzlich sein können, der selbst Freundlichkeit und Herzlichkeit erfahren hat. Junge Menschen oder Außenstehende, die zum ersten Mal in unsere Gemeinde kommen, in einen Gottesdienst z.B., in einen Kreis, in eine Veranstaltung, werden davon etwas spüren oder auch nicht.

Und wir alle, die wir getauft sind, werden täglich neu eingeladen zu erkennen, wie unendlich wichtig wir Gott sind und daß er bedingungslos ja zu uns sagt. Dann wird das mit dem neuen Menschen gewiß kein leeres Gerede bleiben, sondern Stück für Stück mehr alltägliche Erfahrung werden. Amen


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Michael Thein • Pfarrer • Kaulbachstraße 2b• 95447 Bayreuth • Tel. 0921-65378 • Fax 03222-2426857

mic.thein@t-online.de www.michael-thein.de