Die Predigt vom 20. Dezember 1998: »Fast wie ein Voyeur ...«
Kirchenjahr
Evangelisches
Kirchenjahr
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Die evangelische Kirche beging am
Sonntag den 4. Advent. Predigttext war die Erzählung von der Begegnung des
Engels Gabriel mit Maria, der ihr die Geburt ihres Kindes ankündigt.
Lukasevangelium Kapitel 1: |
Predigttext
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26 (Zu der Zeit) wurde der Engel
Gabriel von Gott gesandt in eine Stadt in Galiläa, die heißt
Nazareth, 27 zu einer Jungfrau, die vertraut war einem Mann mit Namen Josef vom
Hause David; und die Jungfrau hieß Maria. 28 Und der Engel kam zu ihr
hinein und sprach: Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr ist mit dir!
29 Sie aber erschrak über die Rede und dachte: Welch ein Gruß ist
das? 30 Und der Engel sprach zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria, du hast
Gnade bei Gott gefunden. 31 Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären,
und du sollst ihm den Namen Jesus geben. 32 Der wird groß sein und Sohn
des Höchsten genannt werden; und Gott der Herr wird ihm den Thron seines
Vaters David geben, 33 und er wird König sein über das Haus Jakob in
Ewigkeit, und sein Reich wird kein Ende haben. 38 Maria aber sprach: Siehe, ich
bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast. Und der Engel schied von
ihr.
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Predigt |
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Fast wie ein Voyeur ...
Voyeure, auf deutsch "Hinschauer" - mit diesem Fremdwort
bezeichnet man Menschen, die heimlich an Schlafzimmerfenstern stehen. Menschen,
die etwas sehen wollen und wissen wollen, was sie eigentlich nichts angeht.
Menschen, die die Intimsphäre nicht achten.
Wie ein solcher Voyeur kann man sich vorkommen bei der folgenden Erzählung
des Evangelisten Lukas. Wir dürfen wie durch einen Türspalt schauen.
Wir dürfen sozusagen dem allmächtigen Gott bei der Arbeit zuschauen.
Wir hören von einer Sache, bei der es keine Zuschauer gab, einer Sache, die
auch keine Zuschauer duldet. Und die Frage "War es so?" können du
und ich nicht beantworten.
Maria und der Engel
26 (Zu der Zeit) wurde der Engel Gabriel von Gott gesandt in eine
Stadt in Galiläa, die heißt Nazareth, 27 zu einer Jungfrau, die
vertraut war einem Mann mit Namen Josef vom Hause David; und die Jungfrau hieß
Maria. 28 Und der Engel kam zu ihr hinein und sprach: Sei gegrüßt, du
Begnadete! Der Herr ist mit dir! 29 Sie aber erschrak über die Rede und
dachte: Welch ein Gruß ist das? 30 Und der Engel sprach zu ihr: Fürchte
dich nicht, Maria, du hast Gnade bei Gott gefunden. 31 Siehe, du wirst schwanger
werden und einen Sohn gebären, und du sollst ihm den Namen Jesus geben. 32
Der wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden; und Gott der
Herr wird ihm den Thron seines Vaters David geben, 33 und er wird König
sein über das Haus Jakob in Ewigkeit, und sein Reich wird kein Ende haben.
38 Maria aber sprach: Siehe, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt
hast. Und der Engel schied von ihr.
Engel ein Blick in Gottes Werkstatt Wenn in der Bibel
Engel begegnen, dürfen wir - bildlich gesprochen - Gott bei der Arbeit "zuschauen".
Von Engeln wird immer dann erzählt, wenn die unsichtbare Welt Gottes und
die sichtbare menschliche Welt miteinander in Kontakt kommen. Engel begegnen,
wenn der unsichtbare und ungreifbare Gott sich für einen Menschen
freiwillig greifbar macht, ihm etwas Wichtiges zu sagen oder etwas Besonderes
mit ihm vor hat. Um es mit Worten der heutigen Zeit zu sagen: Die Engel sind
Gottes Kommunikationsmittel mit uns Menschen. Eine Botschaft will Gott geben.
Und die ist entscheidend, nicht der Überbringer der Botschaft oder die Art
der Übermittlung.
Ein junges Mädchen, mit Namen Maria und wohnhaft in Nazareth, erhält
eine Botschaft von Gott. Gott hat ihr etwas zu sagen. Gott hat gerade mit ihr
etwas vor. Warum gerade mit ihr? Ist sie doch nur eine von vielen tausend jungen
Mädchen der damaligen Zeit. Hätte nicht eine Königstochter in
Jerusalem besser gepaßt?
Maria, die Jungfrau
Jungfrau war Maria. Das heißt erst einmal: eine junge Frau, ein Fräulein.
Eine junge Frau, die kein Kind mehr war. Eine junge Frau, nach damaliger
Gepflogenheit im heiratsfähigen Alter. Vielleicht 12 oder auch 13 Jahre
alt. Als solche war sie auch Jungfrau im engeren Sinn. Mädchen und Frauen
lebten bis zu ihrer Heirat im Haus und wurden vom Vater und den Brüdern wie
ein Augapfel behütet.
Verlobt ist sie, erfahren wir weiter, "vertraut" übersetzt
Luther. Sie ist verlobt mit Josef, der über viele Generationen hinweg mit
dem König David verwandt ist. Verlobt, das hieß damals: Sie waren
einander versprochen. Ihre Eltern hatten das arrangiert. Der Brautpreis war ganz
oder teilweise bezahlt. Doch Maria war noch zu Hause. Die Hochzeit hatte noch
nicht stattgefunden. Sie hatten die Ehe noch nicht vollzogen.
Schon immer hat diese Begegnung zwischen dem Engel und der Maria die
Maler zum Malen gereizt. Wer kann die Erzählung lesen, ohne an ein zugehöriges
Bild zu denken? Und doch ist damit eigentlich die Schamgrenze schon überschritten.
Die Intimsphäre ist verletzt. Die Überbringung der Botschaft wird
wichtiger als die Botschaft selbst. Der Briefumschlag wird wichtiger als der
Brief.
Gott hat etwas mit ihr vor
"Sei begrüßt, du Begnadete. Der Herr ist mir dir."
Das unscheinbare Mädchen vom Lande, wie es damals viele Mädchen gab,
spürt, daß da etwas Besonderes vor sich geht und sie erschrickt. Gott
schaut sie an, er nimmt sie ernst. Er hat etwas vor mit ihr. Nicht nur, daß
Frauen damals überhaupt kein Recht auf einen Gruß hatten. Sie hatten
auch religiös keine Bedeutung. Daß Gott Menschen erwählt, daß
Gott Menschen eine Botschaft mitteilen lassen kann, das weiß sie. Sie weiß
von Mose, sie weiß von den Propheten. Aber sie als junge Frau? Maria erfährt
Gnade: Sie bekommt etwas, was andere nicht bekommen. Sie bekommt etwas, was ihr
nicht zusteht. Sie darf mitwirken bei Gottes Schöpfungshandeln.
Jungfrauengeburt?
Maria wird ein Kind bekommen, wie es viele junge Frauen damals bekommen
haben. Die Spekulationen darüber, wie das zugegangen sein mag, sind
zahlreich. Sie entspringen der menschlichen Phantasie, dem Voyeurismus. Keine
von ihnen kann man aus der Bibel belegen. Die einen sagen: Das Kind ist von
ihrem Verlobten Josef, gezeugt noch vor der offiziellen Hochzeit. Bevorzugt im
Dritten Reich hieß es, es sei von einem römischen Soldaten und
dadurch sei Jesus ja in Wirklichkeit ein Arier und kein Jude. Und die neuesten
Spekulationen wollen wissen, das Kind sei die Folge eines sexuellen Mißbrauchs
des jungen Mädchens in der Familie.
Die Bibel sagt dazu nichts. Das zeigt, daß diese Frage zwar für
die menschliche Neugier und Sensationslust interessant sein mag, aber daß
sie nicht die wichtigste Frage in dieser Geschichte ist. Es geht nicht darum,
wie und von wem sie das Kind bekommt. Wichtig ist, was Gott mit ihr und mit
diesem Kind vor hat.
Daß die Sache mit der Jungfrau für die ersten Christen nicht
so entscheidend gewesen sein kann, zeigt auch, daß das älteste
Evangelium, das Markusevangelium, nichts davon weiß, und daß auch in
den ältesten Zeugnissen des Neuen Testaments, den Paulusbriefen nicht davon
die Rede ist.
Und noch wichtiger scheint mir eines: Wir müssen nicht alles
wissen. Es darf und muß auch Geheimnisse geben. Gott der Schöpfer läßt
sich nun einmal von seinen Geschöpfen nicht auf die Finger schauen. So wie
niemand dabei gewesen ist, als er die Welt entstehen ließ, so geht es auch
menschliche Neugier nichts an, wie Jesus in einer Art neuen Schöpfung
entstand.
Und warum sollte Gott, der Schöpfer, nicht die Freiheit haben, die
Welt entstehen zu lassen in einer Art, wie es sich die heutige Naturwissenschaft
zurechtlegt? Warum sollte Gott, der Schöpfer, nicht die Freiheit haben,
sein Schöpfungswerk an Maria durch ein menschliches Mittun geschehen zu
lassen?
Gotthilf Jesus "Jesus" soll der Name ihres Sohnes sein.
Den darf sie sich nicht selbst aussuchen, auch wenn es ein geläufiger Name
damals war. Gott hat mit dem Kind etwas Besonderes vor. Der Name ist Programm: "Jesus",
"Jeschuah", "Gott hilft", "Gott rettet". In göttlichem
Auftrag wird er einmal handeln. Er ist Mensch wie alle anderen und doch ein
einzigartiger Mensch. Er ist menschlichen und auch göttlichen Ursprungs.
Ein Hoffnungsträger. "Jesus", "Gott wird helfen". Darin
sind all die Hoffnungen zusammengefaßt, die die Menschen damals
umgetrieben haben. Hoffnung auf Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden. Wie damals
in der guten alten Zeit, als David König war.
Gott wird es schon recht machen
Wir wissen im Nachhinein, wie es damals hinausging. Maria weiß es
noch nicht. Doch sie gibt sich zufrieden. "Ich bin des Herrn Magd." "Ich
bin Gottes Dienerin. Er wird schon wissen, was er tut." Gott macht Menschen
nicht zu Marionetten und willenlosen Werkzeugen. Wenn er etwas vor hat mit einem
Menschen, dann hofft und wartet er auf ein Ja.
Daß Gott etwas vor hat mit einem Mädchen von 12 oder 13
Jahren. Das ist das Überraschende an dieser Geschichte. In den letzten
Monaten hatte ich im Religionsunterricht der 6. Klasse die Erzählungen von
König David. Der Kern seiner Salbungsgeschichte ist fast der gleiche: "Ein
Mensch sieht, was vor Augen ist; der Herr aber sieht das Herz an." (1.
Samuel 16,7) So heißt es, als David, der der jüngste und kleinste
seiner Geschwister war, von Gott zum König auserwählt wird. Es kommt
vor Gott nicht auf Stärke, nicht auf Alter und nicht auf das Geschlecht an,
sondern einzig und allein darauf, daß ein Mensch vertrauensvoll sagt: "Gott,
du wirst schon wissen, was du tust. Du wirst es schon richtig machen."
Gottesbegegnungen?
Wer diese Geschichte also nicht nur mit Sensationslust liest, oder wer
sie nicht einfach nur als eine liebliche Adventsgeschichte stehen läßt,
sondern sie weiterdenkt ins Heute hinein, der kommt nicht an der Frage vorbei: Könnte
Gott vielleicht auch mit mir unscheinbarem Zeitgenossen, nicht besser und
schlechter als andere, etwas vor haben? Und was antworte ich, wenn das
geschieht? Kann ich wie Maria vertrauensvoll antworten: "Mein Gott, noch
weiß ich nicht recht, wo es hingehen soll, aber du wirst es schon recht
machen."
Bleiben wir doch offen für solche überraschenden Begegnungen!
Gerade in den vor uns liegenden Weihnachtstagen, wo Gottes Welt und unsre Welt
sich vorsichtig berühren.
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