Die Predigt vom 28. März 1999: »Was ist der wichtigste
Augenblick?«
Kirchenjahr
Evangelisches
Kirchenjahr
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Die evangelische Kirche beging am
Sonntag den Palmsonntag, mit dem die Karwoche beginnt. Predigttext war die
Salbung Jesu in Bethanien aus dem Markusevangelium Kapitel 14: |
Predigttext
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Glaube und Leben.) |
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3 Und als Jesus in
Betanien war im Hause Simons des Aussätzigen und saß zu Tisch, da kam
eine Frau, die hatte ein Glas mit unverfälschtem und kostbarem Nardenöl,
und sie zerbrach das Glas und goß es auf sein Haupt. 4 Da wurden einige
unwillig und sprachen untereinander: Was soll diese Vergeudung des Salböls?
5 Man hätte dieses Öl für mehr als dreihundert Silbergroschen
verkaufen können und das Geld den Armen geben. Und sie fuhren sie an. 6
Jesus aber sprach: Laßt sie in Frieden! Was betrübt ihr sie? Sie hat
ein gutes Werk an mir getan. 7 Denn ihr habt allezeit Arme bei euch, und wenn
ihr wollt, könnt ihr ihnen Gutes tun; mich aber habt ihr nicht allezeit. 8
Sie hat getan, was sie konnte; sie hat meinen Leib im voraus gesalbt für
mein Begräbnis. 9 Wahrlich, ich sage euch: Wo das Evangelium gepredigt wird
in aller Welt, da wird man auch das sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie
jetzt getan hat.
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Predigt |
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Von der Gastfreundschaft
Anfang März fand in unserem Gemeindehaus die Dekanatssynode statt,
auf der sich Kirchenvorsteherinnen und Kirchenvorsteher, Pfarrerinnen und
Pfarrer aus dem ganzen Bezirk treffen. Pfarrer Bogner aus Obernsees interviewte
bei dieser Gelegenheit auch den tansanischen Pfarrer Alphäus Shayo, der
seit zwei Jahren in der Friedenskirche in der Birken Dienst tut. Als Gesprächseinstieg
sagte er sinngemäß: "Wenn wir jetzt in Afrika wären, wäre
es unverschämt, Sie als Gast zu fragen: Wie lange bleiben Sie noch hier bei
uns?"
Die Gastfreundschaft ist in Afrika ein hohes Gut. Für den Gast hat
man alle Zeit der Welt. Mit dem Gast teilt man alles. Für den Gast würde
man sich zerreißen. So war es auch früher in Israel. Nur zur
Illustration, nicht zur Nachahmung empfohlen: Doch soweit ging im Orient die
Gastfreundschaft, daß der Hausherr seinem Gast auch seine Frau anbot.
Die Salbung in Bethanien
Aus der Leidenswoche Jesu nach seinem Einzug in Jerusalem wird uns eine
Begebenheit berichtet, wo einer Frau für Jesus als Gast auch nichts zu
teuer war. Er ist für sie etwas ganz Besonderes und deswegen auch einer
ganz besonderen Ehrung wert. Aus dem Markusevangelium Kapitel 14:
3 Und als Jesus in Betanien war im Hause Simons des Aussätzigen
und saß zu Tisch, da kam eine Frau, die hatte ein Glas mit unverfälschtem
und kostbarem Nardenöl, und sie zerbrach das Glas und goß es auf sein
Haupt. 4 Da wurden einige unwillig und sprachen untereinander: Was soll diese
Vergeudung des Salböls? 5 Man hätte dieses Öl für mehr als
dreihundert Silbergroschen verkaufen können und das Geld den Armen geben.
Und sie fuhren sie an. 6 Jesus aber sprach: Laßt sie in Frieden! Was betrübt
ihr sie? Sie hat ein gutes Werk an mir getan. 7 Denn ihr habt allezeit Arme bei
euch, und wenn ihr wollt, könnt ihr ihnen Gutes tun; mich aber habt ihr
nicht allezeit. 8 Sie hat getan, was sie konnte; sie hat meinen Leib im voraus
gesalbt für mein Begräbnis. 9 Wahrlich, ich sage euch: Wo das
Evangelium gepredigt wird in aller Welt, da wird man auch das sagen zu ihrem Gedächtnis,
was sie jetzt getan hat.
Die fremde Situation erfassen
Es ist gar nicht so leicht, sich so richtig in diese fremde Situation in
einer fremden Kultur vor 2000 Jahren hineinzuversetzen: in die der Frau, in die
der umstehenden Männer und in die Jesu.
Die Spontaneität der Frau
Auf der einen Seite die Gefühle dieser Frau. Was mag in ihr
vorgehen? Was erwartet sie von Jesus? Welche Hoffnungen setzt sie in ihn? Will
sie ihn wie früher in der Zeit der alttestamentlichen Könige zum König
salben? Hat sie vielleicht beim Einzug voll großer Hoffnung mitgeschrien: "Hosianna
dem Sohne Davids. Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn." Oder spürt
sie eher etwas vom Gegenteil: daß gerade nicht seine glorreiche Herrschaft
beginnen wird, sondern daß ihm ein Tod als Aufrührer bevorsteht? Ahnt
sie etwas davon, daß sie ihm zum letzten mal begegnen würde? Ahnt
sie, daß sie einen der letzten Liebesdienste an ihm tut, bevor ihn dann
zwei Tage später die Soldaten nur noch grob anfassen werden?
Nach den beiden vorausgehenden Versen befinden wir uns ja am Dienstag
der Karwoche und der Todesbeschluß ist gefaßt:
1 Es waren noch zwei Tage bis zum Passafest und den Tagen der Ungesäuerten
Brote. Und die Hohenpriester und Schriftgelehrten suchten, wie sie ihn mit List
ergreifen und töten könnten. 2 Denn sie sprachen: Ja nicht bei dem
Fest, damit es nicht einen Aufruhr im Volk gebe.
Ob die Frau all das nun ahnte oder nicht, auf jeden Fall war ihr dieser
Mann so wichtig, daß sie als Frau ungefragt in eine Männerrunde
eindringt, beim Essen stört, die gesellschaftlichen Regeln und die Regeln
des Anstandes verletzt und sich Mißverständnissen aussetzt. Sie
handelt nicht rational, von der Vernunft und vom Kopf gesteuert, sondern ihren
Gefühlen, ihrer Spontaneität folgend.
Die reine Rationalität der Männer
Die Männer nun, die die Gefühle und Ahnungen dieser Frau nicht
kennen, können wiederum das Ganze nur rational und als kühle Rechner
sehen. Und so regen sie sich auf über die Verschwendung, deren Zeugen sie
werden: Äußerst kostbares Öl, das man sonst nur tropfenweise zur
Kosmetik verwendete, oder auch um einem Ehrengast die Füße zu
erfrischen. Noch dazu in einem teuren Alabastergefäß. Sie zerbricht
das Gefäß und gießt den Inhalt Jesus über den Kopf, eine
Menge, deren Gegenwert in Geld etwa dem Jahresverdienst eines kleinen Arbeiters
entsprach.
Hätte es nicht eine kleine Menge auch getan? Muß es die ganze
Flasche sein? So eine Verschwendung! Was hätte ein frommer und mildtätiger
Mensch mit dem Geld, das dieses Öl gekostet hat, Gutes tun können? Hat
sie nicht all die Armen gesehen, die wegen der vielen Festpilger die Straßen
bevölkern? Warum beschwert sich Jesus nicht darüber? Als Rabbi, dem
der Wille Gottes am Herzen liegt, hätte er doch protestieren müssen.
Es hätte ihm zumindest peinlich sein müssen.
Die Frau hat es erfaßt
Und Jesus? Zwei Dinge sagt er dazu. Erst einmal stellt er sich auf die
Seite der Frau: Sie hat intuitiv erfaßt, daß er nicht mehr lange da
ist, nicht mehr lange zu haben ist. Jede Begegnung mit ihm ist letzte Begegnung.
Jedes Wort ist letztes Wort. Jede Freundlichkeit ist letzte Freundlichkeit. Jede
Zärtlichkeit ist letzte Zärtlichkeit. Der Augenblick zählt mehr
als das Nachdenken. Das warme, lebendige Gespür für eine Situation zählt
mehr als die kühle, rechnende Vernunft. Die Tat der Liebe ist wichtiger als
das Geld. Und Liebe ist nun einmal großzügig und grenzenlos. Wer
liebt, schaut nicht aufs Geld. Wer liebt, handelt auch unvernünftig.
"Arme habt Ihr immer, und wenn Ihr wollt, könnt Ihr ihnen
Gutes tun, aber mich habt Ihr nicht mehr lange." Damit ruft Jesus nicht zur
Gleichgültigkeit den Armen gegenüber auf. Er selber hat sich ja ganz
und gar und radikal für sie eingesetzt. Was so mißverständlich
klingt, ist eher die entwaffnende Antwort auf die kritische Anfrage der Männer:
Wenn Euch die Armen wirklich am Herzen liegen, dann regt Euch nicht über
die Frau auf, sondern tut, was Ihr könnt. Aber bedenkt: Alles zu seiner
Zeit. Einmal ist die radikale Sorge für die Armen dran. Und dann wieder die
radikale Aufmerksamkeit und Liebesverschwendung für einen einzelnen
Menschen.
Nicht erst den Toten Gutes tun
Und das zweite, was die Frau wohl nicht wissen konnte, daß sie
eine prophetische Handlung an ihm vollzieht: Jesus kann sich an fünf
Fingern ausrechnen, wohin die Konfrontation mit den Mächtigen führen
wird. Man wird ihn aus dem Weg schaffen. Und so wie einem dann für einen
Toten, den man einbalsamiert, nichts zu schade und nichts zu teuer ist, so kann
er auch diese überschwengliche Salbung durch die Frau mit gutem Gewissen
annehmen.
So ähnlich vielleicht, wie wenn man heute sagt: Gib lieber mit
warmen als mit kalten Händen. Oder auch: Der reiche Blumenschmuck auf dem
Grab ist vergebens, wenn Du nicht schon bei Lebzeiten jemandem Liebe erwiesen
hast.
Den Augenblick erfassen!
Zusammenfassend: Jesus ruft nicht zur Verschwendung auf. Er ruft nicht
auf, das Leben immer nur spontan und mit dem Herzen zu leben. Er ruft nicht auf,
den Verstand auszuschalten und unvernünftig zu handeln. Er ruft auf, den
Augenblick zu erfassen: Wenn gerade ein Mensch wichtig ist, dann ist anderes
nicht so wichtig. Wenn gerade die Liebe wichtig ist, dann zählt anderes für
diese Zeit einmal nicht. Wenn gerade Zuwendung dran ist, dann ist kühles
Rechnen nicht ausschlaggebend. Dann kann es sein, daß auch einmal
Verschwendung dran ist. Nicht Verschwendung von Energie, von Natur, von Wasser,
von Rohstoffen und von Lebensmitteln, was ja sowieso schon zu oft geschieht.
Sondern Verschwendung von Liebe, von Zuwendung, von Zeit, von Aufmerksamkeit,
von Zärtlichkeit usw.
Bei einem mittelalterlichen deutschen Theologen, beim Mystiker Meister
Eckhart habe ich ein Wort gefunden, das das ganz hervorragend einfängt:
"Die wichtigste Stunde ist immer die Gegenwart. Der bedeutendste Mensch
ist immer der, der dir gerade gegenüber steht. Das notwendigste Werk ist
immer die Liebe."
In der Gegenwart leben. Mit den Gedanken da sein, wo man gerade ist.
Nicht schon wieder weit voraus bei den Sorgen von morgen. Oder weit zurück
bei dem, was nicht mehr zu ändern ist. Heute leben, jetzt leben, den
Augenblick erfassen. Die Augen aufmachen, wach sein und aufmerksam.
Und dann den Menschen wahrnehmen, mit dem man gerade zu tun hat. Spüren,
wer einen gerade braucht. Zeit haben für ihn. Und darüber vielleicht
alles liegen und stehen lassen. Darüber die Zeit vergessen. Darüber
das Geld vergessen. Sich nicht stören lassen durch das, was andere von
einem sagen oder von einem denken. Mit dem Herzen leben und nicht nur mit dem
Verstand. Fühlen und nicht nur rechnen.
Und dann fragen, was die Liebe gebietet. Fragen, was das Herz gebietet.
Fragen, was dieser Mensch gerade braucht. Fragen, was ihm fehlt. Fragen, was
dran ist. Und dann investieren: Geld investieren, ohne wieder gleich ängstlich
zu fragen, was man mit dem Geld noch hätte machen können. Zeit
investieren, ohne Angst, was man in der gleichen Zeit vielleicht verpassen könnte.
Liebe investieren, ohne gleich wieder zu fragen, ob sie einem vielleicht gedankt
wird und man sie irgendwann wieder zurückerhält. Ja, nicht nur
investieren, sondern sogar verschwenden: Liebe verschwenden, Zeit verschwenden,
Geld verschwenden, Phantasie verschwenden, menschliche Wärme verschwenden,
Lachen verschwenden.
Aufruf zur Verschwendung
Der alleinstehenden oder schrulligen Nachbarin nicht aus dem Weg gehen,
obwohl man weiß, daß die Begegnung einem mindestens eine
Viertelstunde kosten wird.
Dem bedrückten Bekannten nicht aus dem Weg gehen, ohne Angst, was
er sagen wird, wenn er wirklich wieder einmal abladen darf.
Dem Besuch im Pflegeheim nicht ausweichen, obwohl man weiß, daß
wieder kein Gespräch möglich sein wird, und man nur die eigene
Hilflosigkeit spüren wird.
Dem Kind oder Enkel die erbetene Zeit gönnen, auch wenn man weiß,
was man alles sonst noch Wichtiges zu tun hätte.
"Die wichtigste Stunde ist immer die Gegenwart. Der
bedeutendste Mensch ist immer der, der dir gerade gegenüber steht. Das
notwendigste Werk ist immer die Liebe."
Amen
(Wichtige Impulse verdanke ich Pfarrerin Petra Lohmann in "Werkstatt für
Liturgie und Predigt" Jahrgang 1993, Seite 37ff. Verlag
Bergmoser & Höller) |
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