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Die Predigt vom 2. Mai 1999: »Kinder und Alte sagen die Wahrheit«


Kirchenjahr

Evangelisches Kirchenjahr

Die evangelische Kirche beging den Kirchenmusik-Sonntag "Kantate" ("Singet"). Predigttext war die Erzählung von den Kindern, die im Jerusalemer Tempel ihr Hosianna singen: Mattäusevangelium Kapitel 21:

Predigttext

Sie können Texte auch online in der Lutherbibel nachlesen.
(Weitere Bibellinks finden Sie unter Glaube und Leben
.)

14 Und es gingen zu ihm Blinde und Lahme im Tempel, und er heilte sie. 15 Als aber die Hohenpriester und Schriftgelehrten die Wunder sahen, die er tat, und die Kinder, die im Tempel schrien: Hosianna dem Sohn Davids!, entrüsteten sie sich 16 und sprachen zu ihm: Hörst du auch, was diese sagen? Jesus antwortete ihnen: Ja! Habt ihr nie gelesen (Psalm 8,3): »Aus dem Munde der Unmündigen und Säuglinge hast du dir Lob bereitet«? 17 Und er ließ sie stehen und ging zur Stadt hinaus nach Betanien und blieb dort über Nacht.

Predigt

Kinder und alte Leute sagen die Wahrheit

"Kinder und alte Leute sagen die Wahrheit." So heißt ein deutsches Sprichwort. Sie sagen sehr schnell und unbekümmert ihre Meinung, eine unbequeme Meinung manchmal, eine voreilige Meinung vielleicht auch, ohne lange zu überlegen, was sie damit anrichten. Wer noch nicht und wer nicht mehr auf Konventionen Rücksicht nehmen muß, der darf frei heraus und unbekümmert reden.

Erwachsene dagegen, wenn sie sich einmal den Mund verbrannt haben, verlieren oft ihre kindliche Spontaneität, wägen ihre Worte lieber zweimal, sagen manches nicht, was eigentlich gesagt werden müßte, oder sagen es lieber nicht offen.

Und - was auch noch in diesen Bereich gehört: Kinder können sich sehr schnell für etwas begeistern, mit dem Herzen dabei sein, ihrer Lebensfreude Ausdruck verleihen, z.B. auch laut und froh singen ohne Angst, ohne Angst vor einem falschen Ton.

Vom Glauben der Kinder

Das alles hat nun auch mit dem christlichen Glauben zu tun: Kinder glauben unbekümmerter, Kinder glauben fröhlicher. Bei ihnen steht das Glauben mit dem Herzen im Vordergrund, bei uns Erwachsenen oft das Glauben mit dem Kopf. Kinder, z.B. in einem Familiengottesdienst, bringen etwas in den Gottesdienst ein, was uns Erwachsenen abgegangen ist. Und mancher denkt sich dann vielleicht heimlich: Wenn ich doch auch so unbeschwert glauben und meinen Gefühlen Ausdruck verleihen könnte! Wenn doch diese ganzen Rücksichten und meine Schwellenängste nicht wären!

Das mit den Kindern, den Erwachsenen und dem Glauben war ähnlich auch in einer Begebenheit aus dem Leben Jesu. Nach seinem Einzug in Jerusalem und der Tempelreinigung wird erzählt:

14 Und es gingen zu ihm Blinde und Lahme im Tempel, und er heilte sie. 15 Als aber die Hohenpriester und Schriftgelehrten die Wunder sahen, die er tat, und die Kinder, die im Tempel schrien: Hosianna dem Sohn Davids!, entrüsteten sie sich 16 und sprachen zu ihm: Hörst du auch, was diese sagen? Jesus antwortete ihnen: Ja! Habt ihr nie gelesen (Psalm 8,3): »Aus dem Munde der Unmündigen und Säuglinge hast du dir Lob bereitet«? 17 Und er ließ sie stehen und ging zur Stadt hinaus nach Betanien und blieb dort über Nacht.

Der Messias vom Land

Jesus war in Galiläa aufgewachsen, im Norden Israels am See Genezareth. Wir würden sagen, er war auf dem Land aufgewachsen, weitab von der Stadt. In der kurzen Zeit seiner öffentlichen Wirksamkeit war er offenbar nur einmal in Jerusalem und am Tempel, am Beginn seiner letzten Lebenswoche nämlich. Und so wie es auch heute unter uns noch einen Unterschied zwischen dem christlichen Glauben auf dem Land und dem in der Stadt gibt, so war es auch damals. Jesus kam vom Land. Er hatte einen festen, kindlichen, unerschütterlichen jüdischen Glauben - unverdorben von großstädtischen Verhältnissen, so könnte man sagen. Er hatte in Galiläa mit den Römern als Besatzungsmacht wenig zu tun gehabt, mußte mit ihnen also keine Kompromisse machen. Er hatte es gelernt, frei heraus zu reden, während die Oberen in Jerusalem jedes Wort wägen und jeden Aufruhr vermeiden mußten. Die römischen Besatzer hätten ihnen ihr bißchen Freiheit nur noch mehr eingeschränkt.

Die Erwartungen der Menschen

Jetzt kam also dieser Jesus vom Land, den die Menschen in Galiläa als den Messias erkannt hatten, nach Jerusalem in die Hauptstadt, in die Stadt des jüdischen Tempels. Er kam nicht allein, sondern mit einer großen Anzahl von Pilgern aus seiner Heimat, die wie er zum Passafest, dem wichtigsten Wallfahrtsfest nach Jerusalem wollten. In großer Erwartung waren alle diese Menschen, in religiöser Erwartung und Begeisterung. Viel hatten sie mit ihm erlebt, zuhause in Galiläa und unterwegs. Jetzt würde auch die Bevölkerung der Hauptstadt und vor allem die Oberen die Hoffnungen in diesen Jesus mit ihnen teilen.

So ziehen sie mit ihm zusammen in Jerusalem ein, huldigen ihm wie einem König, indem sie Palmzweige und Kleider auf seinen Weg legen, rufen "Hosianna, dem Sohne Davids" und bekennen sich zu ihm als dem von Gott Gesandten. Für die Kinder in Jerusalem sind diese Tage auch Festtage. Es ist etwas los, es ist etwas geboten. Sie ziehen mit den Leuten durch die Straßen und grölen ihre Parolen nach.

Der vermarktete Glaube

Jesus und die Pilger, sie gehen nach dem Einzug, wie es sich gehört, schnurstracks zum Tempel. Der war ja schließlich das Ziel des langen und beschwerlichen Fußmarsches. Und nun sieht Jesus, der Fromme vom Lande, zum ersten Mal so richtig, was die Städter aus seinem Glauben gemacht haben: er sieht den Tempel als Jahrmarkt. So ähnlich, wie wenn jemand zum ersten Mal nach Vierzehnheiligen kommt, und erst einmal auf all die Buden mit dem religiösen Krimskrams stößt.

Da kommt einer mit tiefen Gefühlen und erlebt die Vermarktung dessen, was ihm im Herzen hoch und heilig ist. Der heilige Zorn packt Jesus, er macht sich eine Geißel aus Stricken und räumt auf unter all den Verkäufern und Geldwechslern.

Wer hat Platz bei Gott?

Und dann die vorhin gehörte Fortsetzung: Kranke kommen zu ihm auf den Tempelvorhof, von all dem Lärm und vom Jubel über den kommenden Messias angelockt. Sie hatten dort eigentlich nichts zu suchen, weil man sie als Kranke ja für von Gott Verstoßene hielt. Gerade bis an die Tore haben sie sich sonst getraut, um von den einziehenden Pilgern ein Almosen zu bekommen. Die Geschäftemacher sollen Platz im Tempel, die Armen und Leidenden aber in der Gemeinschaft des Volkes Gottes nichts zu suchen haben? Ein zweites Mal packt Jesus heiliger Zorn, als er sich dieser Leute erbarmt, sie gesund macht, und ihnen dadurch gleichsam die Eintrittskarte zum Tempel und in die Gemeinde Gottes verschafft.

Und ein weiteres kommt hinzu: In dem ganzen Trubel sind ihm auch die Kinder auf den Tempelvorplatz nachgefolgt. Unmündige, Religionsunmündige, die vor ihrem 12. Lebensjahr dort am Tempel überhaupt nichts verloren haben. Auch sie gehören offiziell nicht, noch nicht, zur Gemeinde Gottes. "Hosianna, dem Sohne Davids" krakeelen sie in den heiligen Hallen und plappern damit ganz einfach nach, was sie von den Pilgern aufgeschnappt haben. Sie wissen vermutlich gar nicht, was sie sagen, aber sie sind die einzigen, die unbekümmert und ohne Scheu Jesus inmitten des Aufruhr als den Gottgesandten verkünden.

Ruhe ist die erste Bürgerpflicht

Ich könnte mir denken, daß die auf dem Weg so mutigen Erwachsenen inzwischen schon lange den Mund gehalten haben. Ja nicht auffallen! Ja nicht erwischt werden an der Seite dessen, der hier einen Tumult anstiftet! So tun, als sei man nur zufällig dabei. Denn nun kommen auch schon die führenden Persönlichkeiten, die die dort etwas zu sagen haben. Schriftgelehrte und Pharisäer, heißt es hier verallgemeinernd. Eine richtige jüdische Tempelpolizei gab es übrigens auch. Wo Tausende Menschen in religiöser Begeisterung zusammenkommen, muß schließlich Ordnung gehalten werden. Man möchte ja den römischen Besatzern, die gleich neben dem Tempel in der Burg Antonia Bereitschaft haben, keinen Grund zum Eingreifen geben. "Hörst du, was sie sagen?" fragen sie Jesus vorwurfsvoll. "Verbiete ihnen doch den Mund. Wir können hier keine Parolen brauchen, die man politisch mißverstehen kann!" Die Schriftgelehrten spüren, daß hier etwas Entscheidendes im Gange ist. Es geht um Gott. Jesus wird nicht nur von den Pilgern als Messias ausgerufen. Wer Augen hatte zu sehen und Ohren zu hören, der wußte aus seinem Alten Testament, daß das Gesundwerden der Ausgestoßenen ein Zeichen des Kommens Gottes war. Doch Ruhe als die erste Bürgerpflicht war jetzt ganz einfach wichtiger als das Kommen Gottes.

Jesus läßt sich nicht auf eine Diskussion ein. Vermutlich ist er viel zu erregt. Nur eines sagt er zum Nachdenken, indem er auf Psalm 8, Vers 3 verweist: "Wißt Ihr nicht, was da von Gott gesagt ist: Aus dem Mund der Kinder läßt du dir Lob singen." Und dann läßt er sie stehen, geht vom Tempelplatz und aus der Stadt hinaus ins benachbarte Dorf Bethanien, wo er sein Pilgerquartier hatte.

Von den Kindern lernen

Was könnte uns diese Geschichte lehren, diese Geschichte von Jesus und vom Glauben an ihn, den die Kinder frei, frech und unbekümmert bekennen, während die Erwachsenen für Ruhe sorgen oder diplomatisch den Mund halten? Ich denke, wir könnten von diesen Kindern etwas über den Glauben lernen, oder besser: wie man seinen Glauben offener, freier und fröhlicher zum Ausdruck bringen kann.

Gleichen wir Erwachsene nicht eher den Erwachsenen hier in der Geschichte: den erwachsenen Pilgern, die verstummt sind, als es ernst wurde, oder den Religionshütern, die ja kein Aufsehen wollen? Unser Glaubensbekenntnis, das wir im Gottesdienst und im kleinen Kreis sehr wohl aussprechen, verstummt allzu schnell in der Öffentlichkeit. Da wo wir gefordert wären: an Stammtischen, bei Kaffeekränzchen, an Arbeitsplätzen, da wo Glaube etwas kostet, weil wir nicht unter uns sind, da sind wir oft sehr still und diplomatisch. Oder machen es viele nicht oft wie die Religionshüter damals: Ordnung muß in der Kirche sein, die Tradition muß gewahrt werden, stillsitzen müssen die Kinder, am besten nimmt man sie gleich gar nicht mit. Ja nichts Neues und Ungewohntes in den Gottesdiensten!

Aber vielleicht könnten wir doch noch mehr vom unbekümmerten Glauben der Kinder lernen: Uns über unseren Glauben mehr freuen, spontaner und fröhlicher davon erzählen, über Unerwartetes und Schönes staunen, uns nicht mit schnellen Antworten zufriedengeben, sondern wie die Kinder hartnäckig und frech nachfragen. Sicher, beim Glauben soll und darf der Verstand nicht ausgeschaltet werden. Manches Vorläufige aus dem Kinderglauben muß auch dem Erwachsenenglauben weichen. Aber Glaube ist letztlich doch mehr eine Sache des Herzens als des Verstandes. Das könnten uns die Kinder lehren.

Hineingekommen in die Reihe der Predigttexte des heutigen Sonntags Kantate, "Singet", sind diese Kinder eher zufällig, nämlich durch ihr unbekümmertes Hosianna, das sie freien Herzens geplärrt haben. Genauso unbekümmert und frei wollen wir heute unser "Lobe den Herren" singen. Amen


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Michael Thein • Pfarrer • Kaulbachstraße 2b• 95447 Bayreuth • Tel. 0921-65378 • Fax 03222-2426857

mic.thein@t-online.de www.michael-thein.de