Predigt |
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Kinder und alte Leute sagen die
Wahrheit
"Kinder und alte Leute sagen die Wahrheit." So heißt
ein deutsches Sprichwort. Sie sagen sehr schnell und unbekümmert ihre
Meinung, eine unbequeme Meinung manchmal, eine voreilige Meinung vielleicht
auch, ohne lange zu überlegen, was sie damit anrichten. Wer noch nicht und
wer nicht mehr auf Konventionen Rücksicht nehmen muß, der darf frei
heraus und unbekümmert reden.
Erwachsene dagegen, wenn sie sich einmal den Mund verbrannt haben,
verlieren oft ihre kindliche Spontaneität, wägen ihre Worte lieber
zweimal, sagen manches nicht, was eigentlich gesagt werden müßte,
oder sagen es lieber nicht offen.
Und - was auch noch in diesen Bereich gehört: Kinder können
sich sehr schnell für etwas begeistern, mit dem Herzen dabei sein, ihrer
Lebensfreude Ausdruck verleihen, z.B. auch laut und froh singen ohne Angst, ohne
Angst vor einem falschen Ton.
Vom Glauben der Kinder
Das alles hat nun auch mit dem christlichen Glauben zu tun: Kinder
glauben unbekümmerter, Kinder glauben fröhlicher. Bei ihnen steht das
Glauben mit dem Herzen im Vordergrund, bei uns Erwachsenen oft das Glauben mit
dem Kopf. Kinder, z.B. in einem Familiengottesdienst, bringen etwas in den
Gottesdienst ein, was uns Erwachsenen abgegangen ist. Und mancher denkt sich
dann vielleicht heimlich: Wenn ich doch auch so unbeschwert glauben und meinen
Gefühlen Ausdruck verleihen könnte! Wenn doch diese ganzen Rücksichten
und meine Schwellenängste nicht wären!
Das mit den Kindern, den Erwachsenen und dem Glauben war ähnlich
auch in einer Begebenheit aus dem Leben Jesu. Nach seinem Einzug in Jerusalem
und der Tempelreinigung wird erzählt:
14 Und es gingen zu ihm Blinde und Lahme im Tempel, und er heilte
sie. 15 Als aber die Hohenpriester und Schriftgelehrten die Wunder sahen, die er
tat, und die Kinder, die im Tempel schrien: Hosianna dem Sohn Davids!, entrüsteten
sie sich 16 und sprachen zu ihm: Hörst du auch, was diese sagen? Jesus
antwortete ihnen: Ja! Habt ihr nie gelesen (Psalm 8,3): »Aus dem Munde der
Unmündigen und Säuglinge hast du dir Lob bereitet«? 17 Und er ließ
sie stehen und ging zur Stadt hinaus nach Betanien und blieb dort über
Nacht.
Der Messias vom Land
Jesus war in Galiläa aufgewachsen, im Norden Israels am See
Genezareth. Wir würden sagen, er war auf dem Land aufgewachsen, weitab von
der Stadt. In der kurzen Zeit seiner öffentlichen Wirksamkeit war er
offenbar nur einmal in Jerusalem und am Tempel, am Beginn seiner letzten
Lebenswoche nämlich. Und so wie es auch heute unter uns noch einen
Unterschied zwischen dem christlichen Glauben auf dem Land und dem in der Stadt
gibt, so war es auch damals. Jesus kam vom Land. Er hatte einen festen,
kindlichen, unerschütterlichen jüdischen Glauben - unverdorben von großstädtischen
Verhältnissen, so könnte man sagen. Er hatte in Galiläa mit den Römern
als Besatzungsmacht wenig zu tun gehabt, mußte mit ihnen also keine
Kompromisse machen. Er hatte es gelernt, frei heraus zu reden, während die
Oberen in Jerusalem jedes Wort wägen und jeden Aufruhr vermeiden mußten.
Die römischen Besatzer hätten ihnen ihr bißchen Freiheit nur
noch mehr eingeschränkt.
Die Erwartungen der Menschen
Jetzt kam also dieser Jesus vom Land, den die Menschen in Galiläa
als den Messias erkannt hatten, nach Jerusalem in die Hauptstadt, in die Stadt
des jüdischen Tempels. Er kam nicht allein, sondern mit einer großen
Anzahl von Pilgern aus seiner Heimat, die wie er zum Passafest, dem wichtigsten
Wallfahrtsfest nach Jerusalem wollten. In großer Erwartung waren alle
diese Menschen, in religiöser Erwartung und Begeisterung. Viel hatten sie
mit ihm erlebt, zuhause in Galiläa und unterwegs. Jetzt würde auch die
Bevölkerung der Hauptstadt und vor allem die Oberen die Hoffnungen in
diesen Jesus mit ihnen teilen.
So ziehen sie mit ihm zusammen in Jerusalem ein, huldigen ihm wie einem
König, indem sie Palmzweige und Kleider auf seinen Weg legen, rufen "Hosianna,
dem Sohne Davids" und bekennen sich zu ihm als dem von Gott Gesandten. Für
die Kinder in Jerusalem sind diese Tage auch Festtage. Es ist etwas los, es ist
etwas geboten. Sie ziehen mit den Leuten durch die Straßen und grölen
ihre Parolen nach.
Der vermarktete Glaube
Jesus und die Pilger, sie gehen nach dem Einzug, wie es sich gehört,
schnurstracks zum Tempel. Der war ja schließlich das Ziel des langen und
beschwerlichen Fußmarsches. Und nun sieht Jesus, der Fromme vom Lande, zum
ersten Mal so richtig, was die Städter aus seinem Glauben gemacht haben: er
sieht den Tempel als Jahrmarkt. So ähnlich, wie wenn jemand zum ersten Mal
nach Vierzehnheiligen kommt, und erst einmal auf all die Buden mit dem religiösen
Krimskrams stößt.
Da kommt einer mit tiefen Gefühlen und erlebt die Vermarktung
dessen, was ihm im Herzen hoch und heilig ist. Der heilige Zorn packt Jesus, er
macht sich eine Geißel aus Stricken und räumt auf unter all den Verkäufern
und Geldwechslern.
Wer hat Platz bei Gott?
Und dann die vorhin gehörte Fortsetzung: Kranke kommen zu ihm auf
den Tempelvorhof, von all dem Lärm und vom Jubel über den kommenden
Messias angelockt. Sie hatten dort eigentlich nichts zu suchen, weil man sie als
Kranke ja für von Gott Verstoßene hielt. Gerade bis an die Tore haben
sie sich sonst getraut, um von den einziehenden Pilgern ein Almosen zu bekommen.
Die Geschäftemacher sollen Platz im Tempel, die Armen und Leidenden aber in
der Gemeinschaft des Volkes Gottes nichts zu suchen haben? Ein zweites Mal packt
Jesus heiliger Zorn, als er sich dieser Leute erbarmt, sie gesund macht, und
ihnen dadurch gleichsam die Eintrittskarte zum Tempel und in die Gemeinde Gottes
verschafft.
Und ein weiteres kommt hinzu: In dem ganzen Trubel sind ihm auch die
Kinder auf den Tempelvorplatz nachgefolgt. Unmündige, Religionsunmündige,
die vor ihrem 12. Lebensjahr dort am Tempel überhaupt nichts verloren
haben. Auch sie gehören offiziell nicht, noch nicht, zur Gemeinde Gottes. "Hosianna,
dem Sohne Davids" krakeelen sie in den heiligen Hallen und plappern damit
ganz einfach nach, was sie von den Pilgern aufgeschnappt haben. Sie wissen
vermutlich gar nicht, was sie sagen, aber sie sind die einzigen, die unbekümmert
und ohne Scheu Jesus inmitten des Aufruhr als den Gottgesandten verkünden.
Ruhe ist die erste Bürgerpflicht
Ich könnte mir denken, daß die auf dem Weg so mutigen
Erwachsenen inzwischen schon lange den Mund gehalten haben. Ja nicht auffallen!
Ja nicht erwischt werden an der Seite dessen, der hier einen Tumult anstiftet!
So tun, als sei man nur zufällig dabei. Denn nun kommen auch schon die führenden
Persönlichkeiten, die die dort etwas zu sagen haben. Schriftgelehrte und
Pharisäer, heißt es hier verallgemeinernd. Eine richtige jüdische
Tempelpolizei gab es übrigens auch. Wo Tausende Menschen in religiöser
Begeisterung zusammenkommen, muß schließlich Ordnung gehalten
werden. Man möchte ja den römischen Besatzern, die gleich neben dem
Tempel in der Burg Antonia Bereitschaft haben, keinen Grund zum Eingreifen
geben. "Hörst du, was sie sagen?" fragen sie Jesus vorwurfsvoll. "Verbiete
ihnen doch den Mund. Wir können hier keine Parolen brauchen, die man
politisch mißverstehen kann!" Die Schriftgelehrten spüren, daß
hier etwas Entscheidendes im Gange ist. Es geht um Gott. Jesus wird nicht nur
von den Pilgern als Messias ausgerufen. Wer Augen hatte zu sehen und Ohren zu hören,
der wußte aus seinem Alten Testament, daß das Gesundwerden der
Ausgestoßenen ein Zeichen des Kommens Gottes war. Doch Ruhe als die erste
Bürgerpflicht war jetzt ganz einfach wichtiger als das Kommen Gottes.
Jesus läßt sich nicht auf eine Diskussion ein. Vermutlich ist
er viel zu erregt. Nur eines sagt er zum Nachdenken, indem er auf Psalm 8, Vers
3 verweist: "Wißt Ihr nicht, was da von Gott gesagt ist: Aus dem Mund
der Kinder läßt du dir Lob singen." Und dann läßt er
sie stehen, geht vom Tempelplatz und aus der Stadt hinaus ins benachbarte Dorf
Bethanien, wo er sein Pilgerquartier hatte.
Von den Kindern lernen
Was könnte uns diese Geschichte lehren, diese Geschichte von Jesus
und vom Glauben an ihn, den die Kinder frei, frech und unbekümmert
bekennen, während die Erwachsenen für Ruhe sorgen oder diplomatisch
den Mund halten? Ich denke, wir könnten von diesen Kindern etwas über
den Glauben lernen, oder besser: wie man seinen Glauben offener, freier und fröhlicher
zum Ausdruck bringen kann.
Gleichen wir Erwachsene nicht eher den Erwachsenen hier in der
Geschichte: den erwachsenen Pilgern, die verstummt sind, als es ernst wurde,
oder den Religionshütern, die ja kein Aufsehen wollen? Unser
Glaubensbekenntnis, das wir im Gottesdienst und im kleinen Kreis sehr wohl
aussprechen, verstummt allzu schnell in der Öffentlichkeit. Da wo wir
gefordert wären: an Stammtischen, bei Kaffeekränzchen, an Arbeitsplätzen,
da wo Glaube etwas kostet, weil wir nicht unter uns sind, da sind wir oft sehr
still und diplomatisch. Oder machen es viele nicht oft wie die Religionshüter
damals: Ordnung muß in der Kirche sein, die Tradition muß gewahrt
werden, stillsitzen müssen die Kinder, am besten nimmt man sie gleich gar
nicht mit. Ja nichts Neues und Ungewohntes in den Gottesdiensten!
Aber vielleicht könnten wir doch noch mehr vom unbekümmerten
Glauben der Kinder lernen: Uns über unseren Glauben mehr freuen, spontaner
und fröhlicher davon erzählen, über Unerwartetes und Schönes
staunen, uns nicht mit schnellen Antworten zufriedengeben, sondern wie die
Kinder hartnäckig und frech nachfragen. Sicher, beim Glauben soll und darf
der Verstand nicht ausgeschaltet werden. Manches Vorläufige aus dem
Kinderglauben muß auch dem Erwachsenenglauben weichen. Aber Glaube ist
letztlich doch mehr eine Sache des Herzens als des Verstandes. Das könnten
uns die Kinder lehren.
Hineingekommen in die Reihe der Predigttexte des heutigen Sonntags
Kantate, "Singet", sind diese Kinder eher zufällig, nämlich
durch ihr unbekümmertes Hosianna, das sie freien Herzens geplärrt
haben. Genauso unbekümmert und frei wollen wir heute unser "Lobe den
Herren" singen. Amen |