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Die Predigt vom Pfingstmontag 24. Mai 1999:
»Von allen guten Geistern verlassen«


Kirchenjahr

Evang. Kirchenjahr: Überblick
Evang. Kirchenjahr: Hinweise

Die evangelische Kirche beging am Wochenende das Pfingstfest. Während am 1. Feiertag die Ausgießung des Geistes im Mittelpunkt stand, ging es am Montag um die Wirkungen des Geistes. Der Predigttext zum Turmbau zu Babel zeigt, wohin es führt, wenn Menschen sich nur auf den eigenen Geist verlassen. 1. Buch Mose Kapitel 11:

Predigttext

Sie können Texte auch online in der Lutherbibel nachlesen.
(Weitere Bibellinks finden Sie unter Glaube und Leben
.)

1 Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache. 2 Als sie nun nach Osten zogen, fanden sie eine Ebene im Lande Schinar und wohnten daselbst. 3 Und sie sprachen untereinander: Wohlauf, laßt uns Ziegel streichen und brennen! - und nahmen Ziegel als Stein und Erdharz als Mörtel 4 und sprachen: Wohlauf, laßt uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, damit wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut in alle Länder. 5 Da fuhr der HERR hernieder, daß er sähe die Stadt und den Turm, die die Menschenkinder bauten. 6 Und der HERR sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen, und dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun. 7 Wohlauf, laßt uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren, daß keiner des andern Sprache verstehe! 8 So zerstreute sie der HERR von dort in alle Länder, daß sie aufhören mußten, die Stadt zu bauen. 9 Daher heißt ihr Name Babel, weil der HERR daselbst verwirrt hat aller Länder Sprache und sie von dort zerstreut hat in alle Länder.

Predigt

Das Gegenstück der Pfingstgeschichte

Diese Geschichte ist keine Pfingstgeschichte. Sie ist eine Antigeschichte, eine Gegengeschichte zur Pfingstgeschichte, die gestern erzählt wurde. Die Geschichte vom Turmbau zu Babel erzählt, wo es hinführt, wenn Menschen sich nicht auf Gottes Geist, sondern allein auf ihren menschlichen Geist verlassen. Der Turmbau von Babel erzählt vom Menschen, der von allen guten Geistern verlassen ist, der geistvergessen und pfingstvergessen geworden ist.

Pfingsten: Menschen verstehen sich

Bei der Pfingstpredigt des Petrus verstanden Menschen und verstanden sich Menschen über die Grenzen der Nationen hinweg, obwohl sie nicht dieselbe Sprache sprachen. Gottes Geist hebt die alte Sprachverwirrung wieder auf. Glaube verbindet: über Ländergrenzen hinweg, über Altersgrenzen hinweg, auch über verschiedene Prägungen und Erziehungen hinweg: Wer einmal einen Kirchentag oder ein internationales christliches Fest erlebt hat, der erlebt auch etwas von diesem Verstehen über alle Grenzen hinweg.

[Im französischen Taizé, wo sich vor allem Jugendliche aus allen Ländern treffen, bin ich noch nicht gewesen. Aber die von dort berichten, berichten Ähnliches.]

Wenn Menschen sich nicht mehr verstehen

Wenn Menschen aber wie in der Turmbaugeschichte sich auf sich selbst und auf die eigene Macht verlassen, dann verstehen sie sich bald nicht mehr und wenn sie zehnmal dieselbe Sprache sprechen:

Über Jahrzehnte lebten Menschen auf dem Balkan friedlich miteinander und nebeneinander. Es kümmerte sie nicht, welchem Volk der Nachbar angehörte. Dann fingen die einen an, dem anderen nicht mehr die Butter auf dem Brot zu gönnen. Und seitdem liegt Babel in Jugoslawien.

Babel ist überall

Babel ist überall. Ich kann die Geschichte des Turmbaus von Babel nicht wörtlich verstehen, ich will sie vielmehr beim Wort nehmen: Nähme man sie nur wörtlich, würde von Gott geredet wie von einem Menschen, über den man schmunzeln kann. Aber Gott ist mehr und er ist anders. Und er wohnt auch nicht nur oben.

Die Geschichte des Turmbaus von Babel ist eine Geschichte, die, beim Wort genommen, auch von uns erzählt. "So war der Mensch schon immer", sagt der alttestamentliche Erzähler seinen Zuhörern, "und so ist er auch heute noch". Und wir könnten nach 3000 Jahren hinzufügen: Jawohl, er hat sich nicht geändert, nur seine stolzen Möglichkeiten sind noch mehr in den Himmel gewachsen.

Eine historische Bauruine

2 Als sie nun nach Osten zogen, fanden sie eine Ebene im Lande Schinar und wohnten daselbst. Die Geschichte vom Turmbau erzählt zwar keine historische Begebenheit, aber sie erinnert an ein historisches Ereignis: Die Ebene Schinar, das ist das Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris im heutigen Irak. Das damalige Babylonien mit Babel als Stadt. Dort begann 1200 vor Christus Nebukadnezar I. eine riesige Stufenpyramide, die nie fertig wurde. Er wollte sich einen Namen machen und sich die Verbindung zu den Göttern sichern. Die langsam verfallende Ruine wurde von den nachfolgenden Generationen als ein Beispiel von Großmannssucht belächelt. So wie heute noch manche Brücke verlassen in der Landschaft steht, aber die dazugehörige Straße kam nie.

Sich verstehen – Das ist das Paradies

Was erzählt die alte Geschichte, beim Wort genommen, uns heute: 1 Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache. Hätten die Menschen Gott nicht ins Handwerk gepfuscht, so sagt der alttestamentliche Erzähler, wäre es nicht so weit gekommen: Gott hatte die Welt und die Menschen so gedacht, daß sie sich verstehen. Das ist das Paradies: Wenn Menschen sich verstehen. Das Paradies ist verloren.

Den Fortschritt verteufeln?

3 Und sie sprachen untereinander: Wohlauf, laßt uns Ziegel streichen und brennen! - und nahmen Ziegel als Stein und Erdharz als Mörtel 4 und sprachen: Wohlauf, laßt uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, damit wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut in alle Länder.

Vom technischen Fortschritt wird erzählt und wie er den Menschen verführt. Eine neue Technik des Bauens wurde im Zweistromland möglich: Mit Natursteinen und Mörtel konnte man nur begrenzte Höhen erreichen. Mit gebrannten Ziegeln und Asphalt aber entstanden auf einmal kleine Wolkenkratzer. Ich verstehe das nicht als Warnung vor dem technischen Fortschritt. Der ist erst einmal von Gott gewollt. Der Mensch soll und darf sich die Erde untertan machen. Dazu hat er seinen Verstand bekommen.

Doch wenn er werden will wie Gott, ...
wenn er seine Grenzen überschreitet, ...
wenn er sich einen Namen machen will, ...
wenn er meint, seine Bäume könnten in den Himmel wachsen ...

Ein Turm, der bis an den Himmel reicht. Der Turm selbst ist nicht das Problem. Gott wohnt nicht oben im Himmel. Kein noch so hoher Turm erreicht ihn, so wie ihn auch der erste Raumfahrer Juri Gagarin dort oben nicht fand. Der Turm ist Bild dafür, daß Menschen in den Bereich Gottes vorstoßen wollen. Daß sie sich Dinge anmaßen, die Gott vorbehalten sind.

Darf man alles, was man kann?

5 Da fuhr der HERR hernieder, daß er sähe die Stadt und den Turm, die die Menschenkinder bauten. 6 Und der HERR sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen, und dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun.

Darf man alles machen, was man machen kann, so fragt der Erzähler. Kann sich, darf sich Gott der Schöpfer damit zufrieden geben, wenn der Mensch in sein Ressort eingreifen und selber Schöpfer spielen will? Darf man heute alles machen, was man kann? In der Gentechnik, bei der Erfindung von Waffen, in der Raumfahrt, bei den Verkehrsprojekten?

Da schaut und steigt Gott von seinem Himmel herab. Auch das ist nicht wörtlich gemeint. Der Erzähler hat nur Spott für die Menschen übrig: Sie wollen bis an den Himmel, aber Gott ist doch unendlich viel weiter oben. Gott läßt die Träume nicht in den Himmel wachsen und holt die Menschen wieder auf den Boden der Tatsachen zurück.

Die Geister, die er rief ...

Das ist hier fast so beschrieben, als wäre Gott eifersüchtig auf die Möglichkeiten der Menschen. Nein, Gott will im Guten den Menschen davor bewahren, in Bereiche vorzustoßen, die er nicht beherrschen kann. Er will ihn davor bewahren, daß ihn die Geister, die er ruft, beherrschen. Er will ihn bewahren, ein Monster zu werden. Denn Menschen, die keine Grenzen mehr haben, werden Monster.

Die Grenzen des Wachstums

Könnte es sein, daß Gott seit einiger Zeit schon dem menschlichen Gigantismus bewußt Grenzen setzt: Die Straßen können den Verkehr nicht mehr fassen. Die zugebauten Böden können das Wasser nicht mehr fassen. Der Körper wehrt sich mit Allergien gegen all das, was ihm in der Nahrung und in der Luft zugemutet wird. Die waffennarrische amerikanische Gesellschaft erschrickt, wohin das führt. Ihre Weltraumfahrt erlebt einen Mißerfolg nach dem anderen. Und die moderne Waffentechnik trifft zunehmend und fortlaufend die falschen Ziele. Wo gehobelt wird, fallen halt auch Späne.

Was ist das für eine Menschheit, die zwar den Mars erobern und alle menschlichen Erbanlagen entschlüsseln will, die aber in einem begrenzten kleinen Bereich keinen Frieden halten oder schaffen kann? [Und auch im Kleinen gilt das: Ich habe mehrere Menschen in der Saas vor Augen, bei der die Frage zumindest erlaubt ist, ob sie nicht durch ihre Grenzenlosigkeit beim Rauchen oder Trinken dort gelandet sind, wo sie nun stehen. Auch da ist Babel.]

Der Turmbau und die Pfingstgeschichte

Schonungslos deckt die Turmbaugeschichte den Menschen, seine Grenzenlosigkeit und seine Großmannssucht auf. Sie ist eine sehr nüchterne Geschichte. Doch gäbe es nur diese Geschichte, wir müßten resignieren oder Angst bekommen vor uns selbst und unseren künftigen Möglichkeiten. Gott seid Dank, gibt es die Pfingstgeschichte. Gott sei Dank gibt es die Erfahrung, daß im Vertrauen auf Gottes Geist Sprachlosigkeit überwunden werden kann und Gottes gute Grenzen wieder entdeckt werden.

In Nordirland sind es vor allem die Christen gewesen, die bei der ermutigenden Entwicklung der letzten Jahre mitgeholfen haben. Und doch sind noch nicht alle Gräben zwischen Protestanten und Katholiken überwunden. Ich hoffe, daß es in Jugoslawien nach der Beendigung des Krieges nicht ebenso lange dauern wird. Aber noch andere Pfingstwünsche habe ich:

Denen, die in unserem Land für den medizinischen und den technischen Fortschritt verantwortlich sind, wünsche ich, daß sie sich dabei nicht nur von der eigenen Intelligenz, sondern auch von Gottes Geist leiten lassen und ihre Grenzen erkennen.

Denen, die große Verkehrsprojekte, z.B. durch den Thüringer Wald beginnen, wünsche ich, daß sie von Gottes geleitet vorher gut rechnen, damit nicht einmal Ruinen ihrer Großmannssucht in der Landschaft stehen bleiben.

Uns allen als Verbrauchern wünsche ich, daß wir nicht alles annehmen und fressen, was man uns vorsetzt. Daß wir vom Heiligen Geist geleitete mündige Bürger und Verbraucher werden: mit einer gesunden Scheu vor noch weiteren hundert Fernsehprogrammen, die doch nur die Sprachlosigkeit vergrößern, mit einer gesunden Scheu vor geänderten Lebensmitteln ...

Dem neuen Bundespräsidenten, der ein aus dem evangelischen Glauben lebender Politiker und Christ ist, wünsche ich, daß er vom Heiligen Geist geleitet seinem Motto treu bleiben kann, Gesellschaft weiter zu versöhnen und Spaltungen zu überwinden.

Uns allen als Christen wünsche ich, daß wir mit Hilfe des Heiligen Geistes die babylonische Sprachverwirrung angehen und einander wieder verstehen. Das war einmal das Paradies: Einander zuhören. Verstehen, was der andere will. Auch die leisen Töne hören. Auch das Unausgesprochene vernehmen. Niemanden überhören, vor allem den Einsamen nicht, auch nicht den stummen Schrei des Verzweifelten. Komm, Heiliger Geist. Amen

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Michael Thein • Pfarrer • Kaulbachstraße 2b• 95447 Bayreuth • Tel. 0921-65378 • Fax 03222-2426857

mic.thein@t-online.de www.michael-thein.de