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Die Predigt vom 3. Dezember 2000: »Die Maßstäbe auf den Kopf gestellt«


Kirchenjahr

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Feiertagskalender (Tabelle)

  Die Evangelische Kirche begeht am Sonntag den 1. Advent und damit den Beginn eines neuen Kirchenjahres. Evangelium ist die Erzählung vom Einzug Jesu in Jerusalem. In der Epistel ruft Paulus auf, die rechte Zeit zu erkennen. In der Predigt habe ich das Lied der Woche „Die Nacht ist vorgedrungen“ (Gesangbuch Nr. 16) ausgelegt:

Predigttext

Sie können Texte auch online in der Lutherbibel nachlesen.
(Weitere Bibellinks finden Sie unter
Glaube und Leben.)

  1. Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern. So sei nun Lob gesungen dem hellen Morgenstern! Auch wer zur Nacht geweinet, der stimme froh mit ein. Der Morgenstern bescheinet auch deine Angst und Pein.

2. Dem alle Engel dienen, wird nun ein Kind und Knecht. Gott selber ist erschienen zur Sühne für sein Recht. Wer schuldig ist auf Erden, verhüll nicht mehr sein Haupt. Er soll errettet werden, wenn er dem Kinde glaubt.

3. Die Nacht ist schon im Schwinden, macht euch zum Stalle auf! Ihr sollt das Heil dort finden, das aller Zeiten Lauf von Anfang an verkündet, seit eure Schuld geschah. Nun hat sich euch verbündet, den Gott selbst ausersah.

4. Noch manche Nacht wird fallen auf Menschenleid und -schuld. Doch wandert nun mit allen der Stern der Gotteshuld. Beglänzt von seinem Lichte, hält euch kein Dunkel mehr, von Gottes Angesichte kam euch die Rettung her.

5. Gott will im Dunkel wohnen und hat es doch erhellt. Als wollte er belohnen, so richtet er die Welt. Der sich den Erdkreis baute, der läßt den Sünder nicht. Wer hier dem Sohn vertraute, kommt dort aus dem Gericht.

Predigt

  Wunschlos glücklich?

Wenn mich jemand fragt: Was wünscht du dir zu Weihnachten? Dann sage ich im allgemeinen: Ich habe keine Wünsche. Ich habe, was ich brauche. Erstens bin ich ein zufriedener Mensch. Und zweitens: Wenn ich wirklich einmal einen Wunsch habe, dann warte ich nicht lange, sondern erfülle ihn mir gleich selbst. Und dann bin ich heimlich immer ein wenig stolz, weil mich der ganze Weihnachts- und Kaufrummel so kalt läßt.

Aber genau genommen sollte ich eigentlich traurig und sogar ein wenig erschrocken über mich sein: Ich kann nicht Advent feiern, denn es geht mir zu gut. Advent, das heißt nämlich Warten. Advent, das heißt etwas entbehren, etwas entbehren müssen, und nun von einer ungeduldigen und unbändigen Vorfreude aufs Beschenktwerden erfüllt sein.

Wir können nicht mehr feiern

Und dann merke ich: Es geht nicht nur mir so. Ich kranke an einer Krankheit unserer heutigen Zeit. Sie hat die meisten Erwachsenen und auch schon einen großen Teil der Kinder befallen: Die meisten von uns können nicht mehr Advent feiern. Wenn wir wollten, könnte jeden Tag Weihnachten sein. Jeden Tag könnten sich die meisten unter uns mit all dem bescheren, was sie sich wünschen. Wenn man die Massen sieht, die in die Kaufhäuser und auf die Märkte strömen, möchte man am liebsten der Statistik nicht glauben, die uns sagt, wieviel verborgene und zunehmende Armut es unter uns gibt.

Wer weiß, was sich hinter dicken Hausmauern und adventlich geschmückten Fenstern wirklich verbirgt, und wir merken nichts davon: Kranke, die ungeduldig auf Heilung warten. Schlaflose, die nachts jeden Viertelstundenschlag der Kirchturmuhr zählen. Trauernde, denen heuer überhaupt nicht nach Weihnachten zumute ist. Verschuldete, die alles dafür tun, daß ihre Nachbarn und Freunde davon nichts mitbekommen. Zerbrochene Familien, denen Weihnachten diese Zerbrochenheit noch einmal ganz besonders bewußt wird.

In den Tod fliehen?

Stellvertretend für alle diese Ungenannten möchte ich mit Ihnen noch einmal das Wochenlied des 1. Advents anschauen: "Die Nacht ist vorgedrungen". Wir haben es eben miteinander gesungen. Ein schönes Lied. Aber können wir es wirklich so richtig singen? Es ist nicht das Lied eines Satten. Es ist nicht das Lied eines Zufriedenen. Es ist das Lied eines bedrängten Menschen, der wußte, was Ungeduld ist, was Warten heißt und Ungewißheit.

Jochen Klepper, 1903 geboren, war wegen seiner jüdischen Frau in der Zeit des Nationalsozialismus einem schweren Druck ausgesetzt. Wehmut und gleichzeitig Zuversicht liegt über allen seinen Liedern, von dem wir zwölf in unserem Gesangbuch haben. Neun Jahre hat er damals dem schweren Druck standhalten können, aber dann 1942 keinen anderen Ausweg mehr gewußt, als mit seiner Frau und seiner Tochter in den Tod zu fliehen. Es war für ihn eine Flucht in die Arme Gottes. Vers für Vers möchte ich mit Ihnen dieses Lied noch einmal anschauen und singen:

Von den Tränen in der Nacht

1. Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern. So sei nun Lob gesungen dem hellen Morgenstern! Auch wer zur Nacht geweinet, der stimme froh mit ein. Der Morgenstern bescheinet auch deine Angst und Pein.

Jochen Klepper hat in seiner Lebenssituation und Bedrängnis das Warten auf Weihnachten mit dem nächtlichen Warten auf einen neuen Tag verglichen. Ein ungeduldiges, ein drängendes, ein hungriges Warten. So wartet ein Kranker, der nachts wach liegt, jeden Schlag der Uhr zählt und den neuen Morgen herbeisehnt. Wie so ein ersehnter neuer Morgen steht der Weihnachtsstern vor uns. Das Licht von Weihnachten ist von weitem schon zu ahnen. Hoffnung und Frieden bedeutet es für die, die jetzt noch Nacht und Verlassenheit spüren. Der Gott, der uns an Weihnachten ganz nahe kommt, kennt jeden, gerade auch in allen seinen Sorgen, Tränen und Ängsten. Von Weihnachten her fällt ein Licht auf jeden von uns und auf alles, was uns belastet. Keiner muß auf Dauer im Dunkel bleiben. Gott hat schon ein Auge auf uns geworfen. Der ferne Gott bleibt im Advent nicht fern, sondern kommt ganz nah. Wir singen die Strophe 1 des Liedes.

Weihnachten – Gott light?

2. Dem alle Engel dienen, wird nun ein Kind und Knecht. Gott selber ist erschienen zur Sühne für sein Recht. Wer schuldig ist auf Erden, verhüll nicht mehr sein Haupt. Er soll errettet werden, wenn er dem Kinde glaubt.

Der ferne Gott kommt ganz nah. Der ferne Gott, das ist Gott in seiner Größe und Allmacht; der Gott, dem die Menschen und auch die Engel zu dienen haben. Gott, wie ihn vor allem das Alte Testament beschreibt. Dort im Alten Testament wird auf Schritt und Tritt nach seiner Nähe und nach seinem Kommen geschrien. Das Schreien ist erhört, sagt Klepper: Doch Gott zeigt sich an Weihnachten in einer ganz unerwarteten Gestalt: Der große Gott wird ein kleines Kind in der Krippe, der allmächtige Gott wird ein Diener und Knecht. Und trotzdem ist in diesem Kind nicht "Gott light", sondern Gott ganz und gar und ohne Abstriche.

Aber Advent, Kommen Gottes, Konfrontiert werden mit Gott bedeutet auch Gericht. Vor Gott gibt es kein Ausweichen. Doch wie sieht dieses Gericht aus: Gott verschafft sich sein Recht in einer Weise, die uns unbegreiflich ist. Nicht wir kommen demütig auf ihn zu, sondern er kommt auf uns zu. Erhobenen Hauptes dürfen wir vor ihn hintreten. Wir dürfen ihm ins Auge sehen in diesem Kind. Wir brauchen unser Angesicht nicht mehr zu verhüllen wie Mose im Alten Testament, als Gott an ihm in seiner Majestät vorüberging. Wer Gott in dieser Niedrigkeit und Mißverständlichkeit annehmen kann, der hat das Leben. Wir singen die Strophe 2 des Liedes.

Gott in einem Kind?

3. Die Nacht ist schon im Schwinden, macht euch zum Stalle auf! Ihr sollt das Heil dort finden, das aller Zeiten Lauf von Anfang an verkündet, seit eure Schuld geschah. Nun hat sich euch verbündet, den Gott selbst ausersah.

Der ferne Gott kommt uns ganz nah. Weihnachten steht bevor. Das dürfte uns eigentlich, so wie den Kindern, keine Ruhe lassen. Wenn Gott uns so entgegenkommt, warum sollten wir nicht Schritte auf ihn zu machen? Sich zum Stall aufmachen, heißt, sich zu Gott aufmachen. Und Jochen Klepper erinnert daran: Daß Gott uns gerade in der Niedrigkeit eines Kindes ganz nahe kommen will, das hat die Bibel schon immer gesagt. Das ist von Anfang an verkündet worden. Vielleicht denkt er an die Lesung des Heiligen Abends: "Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Land, scheint es hell. Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben. Und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter." In diesem Kind hat Gott sich mit uns verbündet. Er hat sich mit uns zusammengetan und uns ein Versprechen gegeben, an das wir uns halten sollen. Wir singen die Strophe 3 des Liedes.

Die Nacht vergeht noch nicht

4. Noch manche Nacht wird fallen auf Menschenleid und -schuld. Doch wandert nun mit allen der Stern der Gotteshuld. Beglänzt von seinem Lichte, hält euch kein Dunkel mehr, von Gottes Angesichte kam euch die Rettung her.

Mit Jesus damals ist uns ganz nahe gekommen. Daran ist nicht zu rütteln. Das steht unverbrüchlich fest. Doch noch ist unser Leben und diese Welt noch nicht vollendet. Solange wir als Menschen auf dieser Welt leben, wird noch manche Nacht des Leides und noch manche Nacht der Sorge vergehen. Trotz der Vergebung, die uns durch die Zuvorkommenheit Gottes zugesprochen ist, trotz der Vergebung, die wir immer wieder im Abendmahl empfangen, fallen wir doch dauernd wieder in Schuld zurück. Schuld und Leid gehören zu unserem irdischen Leben. Sie begleiten uns wie die Nacht, die immer wieder kommt. Doch in diese Nacht von Schuld und Leid hinein leuchtet das Licht von Weihnachten. Der Stern geht mit uns, Gott begleitet uns auf unserem Weg. Nie mehr brauchen wir ihn allein zu gehen seit dieser ersten Heiligen Nacht damals zur Zeit des Königs Augustus. Das Dunkle, das noch über unserem Leben liegt, hat keine endgültige Macht, sondern muß Stück für Stück dem Licht weichen. Wir singen die Strophe 4 des Liedes.

Die Maßstäbe auf den Kopf gestellt

5. Gott will im Dunkel wohnen und hat es doch erhellt. Als wollte er belohnen, so richtet er die Welt. Der sich den Erdkreis baute, der läßt den Sünder nicht. Wer hier dem Sohn vertraute, kommt dort aus dem Gericht.

Der ferne Gott ist uns ganz nah gekommen. Mit der Geburt Jesu, die die menschlichen Maßstäbe und Hoffnungen auf den Kopf gestellt hat, haben sich die Maßstäbe ein für allemal geändert: Gott hat gezeigt, daß er ganz anders ist, als der gesunde Menschenverstand ihn sich ausdenkt. Gott ist nicht der in Gesprächen so oft beschworene "Herrgott". So haben ihn die Menschen des Alten Testaments erfahren: als den fernen und unbegreiflichen. Auch am Berg Sinai, wo er ihnen ganz nah gekommen ist, hat er sich doch noch im Dunkel der Wolke verborgen gehalten, und nur Mose als der Auserwählte durfte ihn von Angesicht sehen. Mit der Geburt Jesu ist etwas ganz Neues geworden. Gott hat von sich aus das Dunkel erhellt. In Jesus Christus ist er als Mensch zu den Menschen gekommen, und jeder hat den freien Zutritt zu ihm.

Kann man hier überhaupt noch von einem Gericht sprechen, fragt Klepper? Gott hat Gericht gehalten, nicht indem wir uns rechtfertigen müssen, wie es sich gehören würde, sondern indem er selbst alles zurecht-gerichtet hat. Das Verhältnis zwischen ihm und uns hat er in Ordnung gebracht. Ein solches Gericht kann er nur als unverdiente Belohnung verstehen. Gott, der Schöpfer, der Welt und Mensch geschaffen und am Ende gesagt hat: Es ist alles gut!, der sagt nun wie in einer neuen Schöpfung: Es ist alles gut! Wer sich das sagen läßt und wider alle menschliche Logik darauf vertraut, der braucht sich vor dem endgültigen Kommen Gottes nicht zu fürchten. Amen

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Michael Thein • Pfarrer • Kaulbachstraße 2b• 95447 Bayreuth • Tel. 0921-65378 • Fax 03222-2426857

mic.thein@t-online.de www.michael-thein.de