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predigt[e].de

Die Predigt vom 11. Februar 2001: »Leben in Schubladen«


Kirchenjahr

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  Nach dem Ende der Weihnachtszeit ging es am 3. Sonntag vor der Fastenzeit, Septuagesimä ("70 Tage vor Ostern"), in eine neue Kirchenjahreszeit. Thema des Sonntags ist die unverdiente Gnade, Evangelium das Gleichnis von den Weingärtnern, Epistel das Gleichnis des Paulus von der "Kampfbahn". Der Predigttext steht im Matthäusevangelium Kapitel 9:

Predigttext

Sie können Texte auch online in der Lutherbibel nachlesen.
(Weitere Bibellinks finden Sie unter
Glaube und Leben.)

  9 Und als Jesus von dort wegging, sah er einen Menschen am Zoll sitzen, der hieß Matthäus; und er sprach zu ihm: Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm. 10 Und es begab sich, als er zu Tisch saß im Hause, siehe, da kamen viele Zöllner und Sünder und saßen zu Tisch mit Jesus und seinen Jüngern. 11 Als das die Pharisäer sahen, sprachen sie zu seinen Jüngern: Warum ißt euer Meister mit den Zöllnern und Sündern? 12 Als das Jesus hörte, sprach er: Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken. 13 Geht aber hin und lernt, was das heißt (Hosea 6,6): »Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer.« Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten. ...

Predigt

  „Immer die ...“

... So wird es bei Matthäus im 9. Kapitel berichtet: Man wußte, was man voneinander zu halten hatte. Man hatte sein Bild voneinander. Die Zöllner, die Sünder. Auf der anderen Seite: Die Pharisäer, die Frommen. Im Alltag hatte man so wenig wie möglich miteinander zu tun. Man hatte so seine Erlebnisse miteinander gehabt oder man lebte nur vom Hörensagen. Jeder lebte in seinen Kreisen. Jeder hatte Umgang mit Seinesgleichen.

Schubladen erleichtern das Leben

Das Leben ist leichter, wenn im Alltag die Beziehungen untereinander geklärt sind. Das Leben ist leichter, wenn ich weiß, was ich von jemand zu halten haben. Das Leben ist leichter, wenn man nicht dauernd neu einordnen muß: Mit dem kann ich, mit jenem weniger. Die ist mir sympathisch, jener gehe ich lieber aus dem Weg. Wenn man z.B. in einer Gruppe, einem Verein, einer Gemeinde zusammen ist: Zu dem setze ich mich automatisch, von jener halte ich lieber Abstand. So haben wir im Alltag unser festes Bild voneinander: Von den Nachbarn, von den Arbeitskollegen, auch von der Verwandtschaft, der lieben und der buckligen .... Wenn man das jedesmal neu überlegen und klären müßte!

Es lebt sich leichter, es lebt sich übersichtlicher mit klaren Einordnungen und Verhältnissen, mit festen und gut beschrifteten Schubladen. Aber diese Schubladen verhindern auch, daß ich mit jemand eine positive Überraschung erlebe, daß ich neue überraschende Begegnungen mache, und vor allem: daß ich mich selber kritisch anschaue.

Jesus zwischen den Stühlen

Die Frommen. Die Sünder. Und dazwischen Jesus. Immer war er zwischen den Fronten und zwischen allen Stühlen. Die Geschichte beginnt damit, daß Jesus einen Mann namens Matthäus in seinen Jüngerkreis ruft. Wir wissen weiter nichts von ihm. Wir hören nur, daß der ohne lange Überlegung seinen festen und lukrativen Arbeitsplatz eintauscht gegen das ungesicherte Unterwegssein mit einem Wanderprediger. Das wäre eine eigene Predigt. So kurz und bündig, wie das berichtet ist, haben sich die Bibelausleger nämlich nie zufrieden geben können: Die beiden müssen sich doch vorher schon gekannt haben, heißt es dann. Matthäus hat wohl schon lange geschwankt und war mit seinem Leben und seiner Arbeit unzufrieden. Was wohl seine Familie dazu gesagt haben mag. Die Frau und die Kinder alleine daheim lassen: undenkbar in der damaligen Zeit. Usw. usw. Nichts von allem steht da: "Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm." Das ist so ähnlich wie bei der Schöpfung: "Und Gott sprach: Es werde Licht. Und es ward Licht."

Das tut man nicht!

Aber, wie gesagt, das wäre eine eigene Predigt. Hier dient die Erwähnung der Berufung des Matthäus offenbar nur dazu, die Situation vorzubereiten, auf die es dem Erzähler ankommt: Jesus begibt sich zwischen die Fronten. Er beginnt sich in eine Gesellschaft, von der sich die Frommen damals ferngehalten haben. Und als Rabbi, als jüdischer Theologe, als der er ja anerkannt wird, muß er sich dafür rechtfertigen. 11 Als das die Pharisäer sahen, sprachen sie zu seinen Jüngern: Warum ißt euer Meister mit den Zöllnern und Sündern? Als ein Meister, ein Rabbi, wird er von den Pharisäern, den Frommen der Zeit, anerkannt. Und seine Jünger als Schüler. Ihn selber zu fragen, trauten sie sich anscheinend nicht. Wie so oft geht es eher hintenrum und indirekt.

Die Zöllner damals

Die Pharisäer nehmen den Weg über seine Jünger. Als Rabbi, so sagen sie, müßte er eigentlich wissen, mit wem er es da zu tun hat: Die Zolleinnehmer, genauer die Pächter der Zollstationen waren mit einem modernen Wort Kollaborateure, also sie arbeiteten als Juden von Berufs wegen mit der heidnischen römischen Besatzungsmacht zusammen. Schon politisch und gesellschaftlich standen sie also auf der anderen Seite. Menschlich gesehen ebenso, weil sie ihr Einkommen nicht immer mit legalen Mitteln bestritten. Und drittens auch religiös, weil sie ihr Leben nicht nach der Thora, nach den religiösen Richtlinien der fünf Bücher Mose ausgerichtet haben, und damit jede Begegnung ihnen religiös unrein machte. Schublade mit der Aufschrift "Sünder" auf. Zöllner rein. Schublade wieder zu. Mit denen zusammen an einem Tisch sitzen? Unmöglich. Die Tischgemeinschaft war damals die engste Gemeinschaft, die man sich denken konnte neben der sexuellen Gemeinschaft von Mann und Frau.

Und die Pharisäer

Es steht nicht da, aber das mit der Schublade hat wahrscheinlich auch andersherum funktioniert: Wer weiß, was die Pächter der Zollstationen und ihre Freunde für ein Bild von den Pharisäern hatten? Die Pharisäer waren kurz gesagt "die Frommen". Menschen verschiedener Schichten und Berufe, für die das einigende Band der Glaube war. Es einte sie, daß sie sich bemühten, die Gebote und Verbote der Thora im Alltag ganz konsequent zu befolgen. Sie nahmen es wirklich erst. Man muß sie verteidigen gegen das verbreitete Mißverständnis, sie seien nur Heuchler und Blender gewesen. Das stimmt genauso wenig wie der Vorwurf, den ich auch jetzt noch manchmal höre: die die Sonntags in die Kirche rennen, seien nur Heuchler, die gesehen werden wollen und sich hinterher das Maul über andere zerreißen.

Daß sie sich so konsequent um ihr Glaubensleben bemüht haben, hat die Pharisäer natürlich auch in Gefahr gebracht: Schnell wird man verbiestert und eng. Man wertet andere ab, die es nicht so ernst meinen. Man sondert sich ab. Die Gefahr steckte schon im Namen: Pharisäer, die Abgesonderten, das war ursprünglich ein Schimpfwort, aber sie haben es dann als eine Art Ehrenbezeichnung angenommen. Wer es ernst meint, steht nun einmal in der Gefahr, um der guten Sache willen radikal zu werden und sich abzusondern: als radikaler Umweltschützer, als radikaler Gewerkschafter, als radikaler Arbeitgebervertreter, als radikaler israelischer Siedler, als radikaler Palästinenser usw.

Wer weiß also, was ein geschäftstüchtiger und nach den Gesetzen des Marktes lebender Pächter einer Zollstation von den Frommen dachte. Schublade auf. Weltabgewandter, stolzer und verbiesterter Pharisäer rein. Schublade wieder zu.

Jesus, der Mediator

Ein Gespräch zwischen Radikalen, ein Gespräch zwischen Menschen, die mit gut beschrifteten und geordneten Schubladen denken und leben, ist nicht möglich. Das enge Blickfeld auf beiden Seiten überschneidet sich nicht. Man kommt nicht zusammen. Es braucht einen Vermittler. Es braucht jemanden, der dazwischentritt. Mediation, in die Mitte treten, vermitteln, so heißt diese Kunst, die inzwischen ganz bewußt in der Erwachsenenbildung gelehrt wird. Der Mediator, die Mediatorin. Sie müssen unvoreingenommen das Gute und das zu Kritisierende auf beiden Seiten sehen können. Sie dürfen keine Angst vor Mißverständnissen haben: daß die jeweils andere Seite sie für einen Mann der Gegenseite hält.

Jesus, der Mediator. Er denkt nicht in Schubladen. Er denkt nicht von festgefügten Meinungen her. Er schaut mit Augen der Liebe hin. Er sieht Menschen nicht als Glied einer Gruppe. Er sieht sie als Einzelne. Er schaut mit Gottes Augen hin und versucht, die alten Verkrustungen aufzubrechen:

Jesus und die Pharisäer

Er lobt die Pharisäer erst einmal für ihren Einsatz für den Glauben: Im Vergleich mit den Geschäftsleuten, die für die die Thora nichts übrig hatten, sind sie die Starken, die den Arzt nicht brauchen. Sie sind nach den Maßstäben der Frömmigkeit die Gerechten. Aber sie müssen sich in ihrer Einseitigkeit und ihren festen Meinungen anhören: 13 Geht aber hin und lernt, was das heißt: »Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer.« Geopfert haben sie als fromme Juden ganz gewiß. Das Almosengeben, die Abgabe des Zehnten für soziale Zwecke, war neben dem regelmäßigen Beten und Fasten selbstverständlicher Ausdruck ihrer Frömmigkeit. Aber mit Worten des Propheten Hosea fragt Jesus sie nach ihrer Barmherzigkeit. "Was soll eure ganze echte Frömmigkeit, wenn Ihr darüber Menschen ausgrenzt, sie für Gott abschreibt und sie aburteilt?"

Jesus und die Zöllner

Und ähnlich geht Jesus mit der anderen Seite um: Er lobt sie ja keineswegs. Er legt den Finger in die Wunde. Sie sind die Sünder im Gegensatz zu den Gerechten. Die Kranken im Gegensatz zu den Starken. Wir wissen nicht, was bei dem Fest im Haus des Matthäus gesprochen wurde, aber Jesus hat sicher kein Blatt vor den Mund genommen. Aber daß er, der Rabbi, der Fromme auf sie zugeht und damit die ihnen verschlossene Barmherzigkeit Gottes mitbringt, hat ganz sicher Verkrustungen aufgebrochen, Verletzungen geheilt und neue Anfänge ermöglicht.

Wiederum sagt die knappe Geschichte nicht, was dabei herausgekommen ist. Vielleicht hat sich Jesus hinterher von den Pharisäern anhören müssen: Das hätten wir die gleich sagen können: Du gehst auf sie zu. Du wertest sie auf. Und nichts hat es gebracht." Vielleicht war es aber auch wie beim kleinen Oberzöllner Zachäus, der dadurch sein Leben ganz umgekrempelt hat. Und dann hat Jesus ihnen vielleicht wie an anderer Stelle entgegen gehalten: Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen. (Lukas 15,7)

Und wir heute?

Und wir heute und hier? Für mich ist diese Begegebenheit eine Einladung zur Mediation: Fronten aufbrechen, Verkrustungen aufweichen, Mißverständnisse klären, indem man geduldig zwischen den Fronten unterwegs ist. Wo, das wäre Hausaufgabe für jede einzelne und jeden einzelnen: In der Familie, unter den Nachbarn, im Verein, unter den Arbeitskollegen.

Was z.B. die Kirchengemeinde angeht: Auf die Jugendlichen zugehen, ihnen einen Vertrauensvorschuß geben, auch wenn sie es einem zum wiederholten Mal nicht lohnen.

Oder vermitteln zwischen den Kirchgängern oder den sog. Frommen und den anderen, die je ihre Meinung voneinander haben. Ich freue mich über jeden, den man im Gottesdienst und um Wirtshaus begegnet, über jeden, der sich im Verein engagiert wie in der Kirchengemeinde. Wir brauchen mehr solche Wanderer zwischen den Welten, damit Mißverständnisse und Vorurteile weniger werden und Gemeinde innerlich zusammenwächst.

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Michael Thein • Pfarrer • Kaulbachstraße 2b• 95447 Bayreuth • Tel. 0921-65378 • Fax 03222-2426857

mic.thein@t-online.de www.michael-thein.de