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Die Predigt vom 25. Februar 2001: »Von den christlichen Scheuklappen«


Kirchenjahr

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  Die Evangelische Kirche beging den Sonntag vor der Passionszeit mit Namen „Estomihi“ („Sei mir ein starker Fels“ Ps 31,3). Thema des Sonntags ist Jesu Weg zum Kreuz, heimliches Thema die Nächstenliebe. Der Predigttext steht im Lukasevangelium Kapitel 18:

Predigttext

Sie können Texte auch online in der Lutherbibel nachlesen.
(Weitere Bibellinks finden Sie unter
Glaube und Leben.)

  31 Er nahm aber zu sich die Zwölf und sprach zu ihnen: Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, was geschrieben ist durch die Propheten von dem Menschensohn. 32 Denn er wird überantwortet werden den Heiden, und er wird verspottet und mißhandelt und angespien werden, 33 und sie werden ihn geißeln und töten; und am dritten Tage wird er auferstehen. 34 Sie aber begriffen nichts davon, und der Sinn der Rede war ihnen verborgen, und sie verstanden nicht, was damit gesagt war.
35 Es begab sich aber, als er in die Nähe von Jericho kam, daß ein Blinder am Wege saß und bettelte. 36 Als er aber die Menge hörte, die vorbeiging, forschte er, was das wäre. 37 Da berichteten sie ihm, Jesus von Nazareth gehe vorbei. 38 Und er rief: Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! 39 Die aber vornean gingen, fuhren ihn an, er solle schweigen. Er aber schrie noch viel mehr: Du Sohn Davids, erbarme dich meiner! 40 Jesus aber blieb stehen und ließ ihn zu sich führen. Als er aber näher kam, fragte er ihn: 41 Was willst du, daß ich für dich tun soll? Er sprach: Herr, daß ich sehen kann. 42 Und Jesus sprach zu ihm: Sei sehend! Dein Glaube hat dir geholfen. 43 Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm nach und pries Gott. Und alles Volk, das es sah, lobte Gott.

Predigt

  Der Anfang vom Ende

Wir schreiben das Jahr 30 nach unserer heutigen Zeitrechnung, die damals ja noch nicht "nach Christi Geburt" hieß. Es ist Ende März, Anfang April, ungefähr eine Woche vor Jesu Tod. Nach diesem Erlebnis hier mit dem Blinden vor der Stadt wird Jesus nach Jericho hineingehen und dort dem Oberzöllner Zachäus begegnen, bei dem er einkehrt und die Nacht verbringt. Am nächsten Tag wird er dann die steile Straße nach Jerusalem hinaufgehen. Der Einzug in Jerusalem wird folgen, nach unserem Kirchenjahr am Palmsonntag, dem Sonntag vor Ostern.

Was mag in ihm und seinen Begleitern damals vorgegangen sein? Sie waren auf dem Weg zum Passafest, dem bedeutendsten der drei Wallfahrtsfeste; dem Fest, an dem die Juden heute noch der Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten gedenken. Zu diesem Wallfahrtsfest machten sich Pilger aus ganz Israel auf nach Jerusalem zum Tempel. Auch Jesus ist in diesem Jahr in ihrer Mitte. Mit vielen anderen Pilgern aus dem Norden des Landes ist er unterwegs nach Jerusalem. Dort im Norden Israels war seine Heimat: Galiläa, rund um den See Genezareth. Dort wirkte er vor allem. Vom See Genezareth aus haben sie die Straße in der Flußebene des Jordan genommen. Die allermeisten von ihnen zumindest. Den direkten, kürzeren, aber auch beschwerlicheren Weg über den Gebirgskamm von Nord nach Süd, den Weg, den die schwangere Maria "übers Gebirg" ging, haben sie als fromme Juden gemieden. Dort in den Bergen Samarias nämlich wohnten die Samaritaner, mit denen die frommen Juden nichts zu tun haben wollten. Von Jesus wissen wir, daß er diese Begegnungen mit den Menschen in Samarien nicht gescheut hat.

Triumph oder Passion?

So sind sie auf ihrem Wallfahrtsweg nach Jerusalem vor der Oase Jericho angekommen. Hier galt es zu übernachten, denn dann würde am nächsten Tag der steile Aufstieg hinauf in das Gebirge nach Jerusalem kommen, das ungefähr 1.000 Meter höher liegt: "Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem." Nicht weit vor Jericho also nimmt Jesus seine Jünger, deren Festfreude sich steigerte, je mehr sie sich der Stadt näherten, noch einmal beiseite und stimmt sie ein auf das, was kommt:

31 Er nahm aber zu sich die Zwölf und sprach zu ihnen: Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, was geschrieben ist durch die Propheten von dem Menschensohn. 32 Denn er wird überantwortet werden den Heiden, und er wird verspottet und mißhandelt und angespien werden, 33 und sie werden ihn geißeln und töten; und am dritten Tage wird er auferstehen.

Jesus weiß es, an seinen zehn Fingern kann er es abzählen, was in Jerusalem, der Stadt des Tempels, dem Zentrum des Glaubens, geschehen wird. Von Galiläa ist sein Ruf schon lange bis nach Jerusalem gedrungen. Beim Volk ist er beliebt. Er geht auf ihre Nöte und Fragen ein. Er predigt gewaltig. Bei den frommen Juden und bei der Oberschicht ist er verhaßt und gefährlich. Er hält den Frommen den Spiegel vor, wenn ihr Reden und ihr Tun nicht zusammenpassen, wenn sie über der Einhaltung der religiösen Gesetze den Menschen vergessen. Und vor allem: Wo er ist, verursacht er einen Menschenauflauf. Und den kann die jüdische Oberschicht, die Männer um den König und die Hohenpriester, nicht gebrauchen. Sie wollen Ruhe im Land. Ruhe, um der römischen Besatzungsmacht keinen Anlaß zum Eingreifen zu bieten.

Die Lage wird sich zuspitzen

Hier in der Hauptstadt, am Ort des Tempels, würden sich die Konflikte mit den Frommen und den Oberen noch zuspitzen. Jesus scheute den Konflikt nicht, wenn es um die Wahrheit ging. Er liebte das klare Wort. Er war konsequent und ging den Folgen seines Tuns nicht aus dem Weg. Er sah ihnen ins Auge. Im Tempelbezirk würde es sich ein paar Tage später entscheiden. Sein Eifer für Gott würde mit ihm durchgehen und er würde einen Eklat verursachen. Den Geldwechslern würde er die Tische umwerfen und die Händler mit den Opfertieren würde er vertreiben. Dieses Ereignis hat für die frommen Juden wohl das Maß voll gemacht. Einen Aufruhr zum Fest konnten sie sich nicht leisten. An den großen Wallfahrtsfesten waren die Römer wegen der vielen Menschen sowieso sehr sensibel. Die Burg Antonia hatten die Römer unmittelbar neben den Tempelbezirk gebaut, um schnell eingreifen zu können. Auch der römische Statthalter war in dieser kritischen Zeit selbst in Jerusalem. Sonst lebte er lieber am Mittelmeer in der Stadt Cäsarea, wo es wärmer war.

Die Welle schwemmt ihn mit

Hätte Jesus überhaupt noch zurück gekonnt, damals in jenem Moment vor der Oase Jericho, inmitten der begeisterten Menschenmenge? Die Masse des Volks, die ihn hinauftrug wie eine Meereswelle, erwartete etwas von ihm. Am nächsten Tag, beim Einzug in Jerusalem, würden sie schreien: "Hosianna dem Sohne Davids" und sie würden ihn wie einen König in die Stadt hineinbegleiten. Den Messias, den Retter, den politischen Befreier sahen sie in ihm. Das persönliche Heil hatte er ihnen gebracht: Gesundheit, Vergebung, Freiheit vom Bösen, die Nähe Gottes. Jetzt sollte noch das politische Heil folgen. Einen großen Aufstand gegen die Römer unter seiner Führung oder wenigstens etwas Ähnliches erwartete sich wohl ein großer Teil von denen, die mitmarschierten. Jetzt oder nie sollte es sich entscheiden. In der gleichen Siegesstimmung waren wohl auch die Jünger. Daß es in Jerusalem statt dessen ins Leiden und in den Tod gehen sollte, konnten sie nicht begreifen. Und so heißt es lapidar: 34 Sie aber begriffen nichts davon, und der Sinn der Rede war ihnen verborgen, und sie verstanden nicht, was damit gesagt war.

Die Karawane zieht weiter

So kamen sie also in ihrer Siegesstimmung und mit ihren großen Erwartungen in die Nähe von Jericho. Einer der vielen namenlosen Blinden saß am Weg. Die anderen Evangelien nennen ihn beim Namen: Bartimäus. Wahrscheinlich hatte er sich bewußt an den Weg gesetzt, wo die vielen Pilger vorbeikamen. Da würde etwas zu holen sein. Almosen geben war selbstverständliche Verpflichtung für einen frommen Juden. Gerade auch auf dem Wallfahrtsweg. Die fromme Karawane zieht geschäftig an dem blinden Bettler vorbei. Die Augen begeistert gen Jerusalem gerichtet. Fromme Scheuklappen lassen sie nicht nach rechts und links schauen.

Der Blinde aber spürt mit dem feinen Gespür dessen, der nicht sehen kann, daß etwas Besonderes los sein muß. Er fragt und hört, daß Jesus vorbeikommt. Jesus, auf deutsch: "Gott hilft". Es steht nicht ausdrücklich da. Aber, wer weiß, ob Lukas nicht tiefer geblickt hat: Die sehenden Jünger begreifen nicht, daß Jesus sich auf seinen letzten Weg macht. Sie malen sich schon die goldene Zukunft aus. Er, der Bettler, aber, äußerlich blind, ist innerlich sehend: Er spürt Jesu letzten Weg. Ein zweites Mal würde er nicht vorbeikommen. Also jetzt oder nie: "Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner." Seine ganze Hoffnung steckt in diesem Ruf! Als Davidssohn, also als Messias, als Helfer und Retter spricht er ihn an. Der das ganze Volk retten würde, der würde doch auch Augen für ihn haben. "Herr, erbarme dich meiner - Kyrie eleison" so wurde damals der römische Kaiser angerufen, den man als Gott zu verehren hatte. Im Munde des blinden Bettlers bedeutete das: "Du, Jesus, bist der einzige, der helfen kann."

Von den frommen Scheuklappen

Die wogende Menge war gar nicht begeistert von seinem Geschrei und von der Zeitverzögerung. "Die aber vornean gingen, fuhren ihn an, er solle schweigen." Waren es die Begeisterung und der Trubel des bevorstehenden Festes, daß sie nichts mit ihm zu tun haben wollten? Oder meinten sie, Jesus habe in Jerusalem jetzt größere und wichtigere Aufgaben, als sich um einen dreckigen Bettler zu kümmern? Ganz egal: Blind sind sie für den Blinden. In ihrer politisch-religiösen Begeisterung merken sie nicht, worum es Jesus wirklich geht und schon immer gegangen war: Nicht um die Menge und nicht um die Show, sondern immer um den einzelnen Menschen, um den, der gerade am Wegesrand saß. Wie oft lesen wir in der Bibel, wie Jesus die Menge stehenlassen konnte, um sich zurückzuziehen oder um sich einem einzelnen zuzuwenden.

So bleibt er auch hier stehen und läßt den Blinden herkommen. "Was willst du, daß ich für dich tun soll?" Eine dumme Frage eigentlich, oder vielleicht doch nicht? Jesus stülpt niemals einem Menschen etwas über. Er nimmt den Menschen ernst in seinen Bedürfnissen, in seiner persönlichen Not. Der Mensch ist nicht das Schauobjekt, an dem Jesus seine Macht beweist. Und: Vielleicht kann einem Menschen wirklich nur geholfen werden, wenn er sein Leiden, seine Not beim Namen nennt. Das ist der Sinn des "Kyrie eleison", das ist der Sinn des Gebets im Gottesdienst, daß die Not vor Gott auch ausgesprochen wird, obwohl er sie eigentlich schon kennt, bevor wir überhaupt den Mund aufgemacht haben.

Der Mensch an meinem Wegrand

Und so läßt Jesus in diesem Augenblick die Masse Masse sein, er läßt die Karawane an sich vorbeiziehen und geht auf diesen einen Menschen ein. Genau da liegt für mich der Kern: Eine Woche vor seinem Tod, das sichere Leiden vor Augen, nach Jerusalem gedrängt von den massiven Erwartungen der Menschen, kümmert sich Jesus um diesen einen Menschen, als gebe es in diesem Moment nichts Wichtigeres in der Weltgeschichte. Trotz seines eigenen Leidens hat er Augen für den Leidenden am Weg.

Zum Schluß: Drei Dinge habe ich beim Nachdenken für mich mitgenommen: Wer das Leiden Jesu fassen will, kommt wie die Jünger über den Verstand nicht weiter und bleibt blind. Nur mit dem Herzen, mit dem sehenden Herzen des äußerlich Blinden ist er zu begreifen.

Und: Jeder, der heute leiden muß und vertrauensvoll zu Gott schreit, darf glauben, daß Gott für ihn da sein will, als gebe es gerade nichts Wichtigeres auf der Welt.

Und zuletzt: Jesus lehrt uns, die Leidenden an unserem Weg, die unsere Hilfe brauchen, über unserer großen Geschäftigkeit nicht zu übersehen. Unser eigenes Leiden, so groß es auch sein mag, darf uns nicht blind machen für andere.

"Herr, gib du uns Augen, die den Nachbarn sehn, Ohren die ihn hören und ihn auch verstehn. Hände, die es lernen, wie man hilft und heilt; Füße, die nicht zögern, wenn die Hilfe eilt." Amen

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Michael Thein • Pfarrer • Kaulbachstraße 2b• 95447 Bayreuth • Tel. 0921-65378 • Fax 03222-2426857

mic.thein@t-online.de www.michael-thein.de