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predigt[e].de

Die Predigt vom 8. April 2001: »Die Schmerzensmänner heute«


Kirchenjahr

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  Die Evangelische Kirche beging mit dem Palmsonntag (von den Palmzweigen beim Einzug Jesu in Jerusalem) den Beginn der Karwoche. Leitbild des Sonntags ist der „Schmerzensmann“. Weil der Predigttext ähnliche Gedanken aufgreift wie der vom 11. März, habe ich stattgessen das Wochenlied ausgelegt:

Predigttext

Sie können Texte auch online in der Lutherbibel nachlesen.
(Weitere Bibellinks finden Sie unter
Glaube und Leben.)

  1. Du großer Schmerzensmann, vom Vater so geschlagen, Herr Jesu, dir sei Dank für alle deine Plagen: für deine Seelenangst, für deine Band und Not, für deine Geißelung, für deinen bittern Tod.

2. Ach das hat unsre Sünd und Missetat verschuldet, was du an unsrer Statt, was du für uns erduldet. Ach unsre Sünde bringt dich an das Kreuz hinan; o unbeflecktes Lamm, was hast du sonst getan?

3. Dein Kampf ist unser Sieg, dein Tod ist unser Leben; in deinen Banden ist die Freiheit uns gegeben. Dein Kreuz ist unser Trost, die Wunden unser Heil, dein Blut das Lösegeld, der armen Sünder Teil.

4. O hilf, daß wir auch uns zum Kampf und Leiden wagen und unter unsrer Last des Kreuzes nicht verzagen; hilf tragen mit Geduld durch deine Dornenkron, wenn's kommen soll mit uns zum Blute, Schmach und Hohn.

5. Dein Angst komm uns zugut, wenn wir in Ängsten liegen; durch deinen Todeskampf laß uns im Tode siegen; durch deine Bande, Herr, bind uns, wie dir's gefällt; hilf, daß wir kreuzigen durch dein Kreuz Fleisch und Welt.

6. Laß deine Wunden sein die Heilung unsrer Sünden, laß uns auf deinen Tod den Trost im Tode gründen. O Jesu, laß an uns durch dein Kreuz, Angst und Pein dein Leiden, Kreuz und Angst ja nicht verloren sein.

Text: Adam Thebesius (1652) 1663 Melodie: Martin Jan (1652) 1663

Predigt

  Bei der Kreuzigung zuschauen?

Im Religionsunterricht der vierten Klasse habe ich in den letzten Wochen Ausschnitte aus einem Film über das Leben Jesu gezeigt. Und bei der zweiten Fortsetzung schon kam die neugierige Frage von einzelnen: "Zeigen Sie auch, wie er dann stirbt?" Und sie haben die Frage so gestellt, daß ich verstanden habe: "Das wollen wir sehen. Das dürfen Sie uns nicht vorenthalten." In der letzten Stunde vor den Ferien war ich dann irgendwie froh, daß die Zeit doch nicht bis zum Ende gereicht hat. Die Fortsetzung wird, ja muß nach Ostern kommen. Ich bin mir immer noch unsicher und muß wohl auch noch einmal genauer nachfragen: Warum wollen sie das sehen? Die Sache hat zwei Seiten:

Den Kindern das Kreuz nicht vorenthalten

Auf der einen Seite kann man und darf man auch den Kindern das Kreuz nicht vorenthalten. Man tut es ja auch nicht. Der Gekreuzigte hängt praktisch in jedem Klassenzimmer. Er gehört zum Alltag. Keiner erschrickt mehr so richtig davor, obwohl wir eigentlich jedesmal neu erschrecken müßten. Die Kinder des Medienzeitalters können alltäglich größere Grausamkeiten erleben: Ganz legal im Hauptprogramm des Fernsehens, in den Nachrichtensendungen, ganz zu schweigen von den Sendungen oder Videos, die eigentlich gar nicht für sie bestimmt sind. Und gerade darin liegen nun auch meine Zweifel: Eigentlich soll das Kreuz zu einem tiefen Erschrecken führen. Aber ist die Gefahr nicht groß, daß Kinder heute gar nicht mehr erschrecken, sondern daß sie schon abgestumpft sind, ja vielleicht gar lustvoll zuschauen?

Vor dem Kreuz erschrecken

Im Mittelalter malte man Jesus, den Schmerzensmann, den Menschen ganz bewußt vor Augen. Bilder in Kirchen, Lieder, Predigten, das waren die Alltagsmedien damals. Man malte den Schmerzensmann vor Augen, nicht, um die Neugier zu befriedigen, sondern damit sich die Menschen in ihm mit ihren eigenen Schmerzen entdecken können. Und auch zum Erschrecken: Erschrecken darüber, wozu Menschen fähig sind. Und vor allem Erschrecken über mich selbst: daß ich ja eigentlich der Schuldige bin. Daß mich ja eigentlich das alles hätte treffen müssen.

Ich denke, man kann das durchaus vergleichen mit den Schreckensmeldungen der heutigen Medien: Wenn wir bequem im Sessel sitzen und uns die Schmerzensmänner der heutigen Zeit gezeigt werden, die Menschen, die nach einer Explosion erst wieder zusammengesammelt werden müssen, die ausgemergelten Kinder mit Greisengesichtern und Hungerbäuchen usw., dann sollten eigentlich auch wir erschrecken, wozu Menschen fähig sind. Und noch mehr sollten wir eigentlich erschrecken, daß wir überhaupt nichts dafür können, daß wir in unserem Sessel sitzen und nicht an deren Stelle sind. Daß wir überhaupt nichts dafür können, daß wir in diesem Land hier leben dürfen. Daß wir überhaupt nichts dafür können, daß wir die Zuschauer der Katastrophen sind und nicht die Betroffenen.

„Du großer Schmerzensmann“

Der Dichter des Passionsliedes "Du großer Schmerzensmann" hatte das Erschrecken und den Tod in seiner damaligen Zeit täglich vor Augen: Adam Thebesius wurde 1596 in einem Pfarrhaus in der Nähe von Liegnitz in Schlesien geboren. Sein Leben ist vom Dreißigjährigen Krieg geprägt: 22 Jahre war er, als der Krieg begann. Ein Jahr darauf wurde er Pfarrer. Mit 25 heiratete er. Und wie Paul Gerhardt verlor er in diesem schrecklichen Krieg vier seiner acht Kinder und nach achtjähriger Ehe dann auch seine Frau. Vier Jahre nach dem Krieg starb er: von Krankheit gezeichnet, aber geistlich gut vorbereitet. Im Todesjahr, dem Jahr 1652, gab der dortige Kirchenmusiker Martin Jan ein Gesangbuch mit 250 Passionsliedern heraus, in dem u.a. auch dieses Lied zu finden ist. Das einzige Lied des Martin Jan und auch das einzige von Adam Thebesius, das die Zeiten überdauert hat.

Danke für Jesu Tod?

1. Du großer Schmerzensmann, vom Vater so geschlagen, Herr Jesu, dir sei Dank für alle deine Plagen: für deine Seelenangst, für deine Band und Not, für deine Geißelung, für deinen bittern Tod.

Wir singen die bekannten Lieder oft genug so unbewußt und ohne viel nachzudenken: Wie kann man Jesus danken für seine Plagen, für seine Angst, die Geißelung, den Tod? Ist das nicht widersinnig? Ich kann es nur so verstehen: Der erste Vers ist wie eine Überschrift über das ganze Lied. Er kann nicht ohne die folgenden Verse verstanden werden. Und die sagen: Wenn Menschen Schlimmes erleben, Leid und Krankheit und Verzweiflung, dann sollen sie wissen: Jesus ist durch das alles schon hindurchgegangen. Er kennt sie. Er steht auf ihrer Seite. Sie sind genauso wenig von Gott verlassen, wie er von Gott verlassen war. Und deswegen und nur deswegen: Danke. Wem es gut geht, der kann das Lied eigentlich gar nicht richtig singen. Wir singen den ersten Vers des Liedes 87. ...

Karfreitag: der große Versöhnungstag

2. Ach das hat unsre Sünd und Missetat verschuldet, was du an unsrer Statt, was du für uns erduldet. Ach unsre Sünde bringt dich an das Kreuz hinan; o unbeflecktes Lamm, was hast du sonst getan?

Wir selber sind betroffen. Wir können uns nicht fein heraushalten. Sicher: Wir sind damals bei der Kreuzigung nicht dabei gewesen. Aber: Wären wir dabei gewesen, hätten wir damals gelebt, wären wir nicht genauso mit der Masse geschwommen und hätten wir nicht auch im großen Chor "Kreuzige" geschrien, nachdem er unsere Hoffnungen nicht erfüllt hat? Und: Wenn Jesus durch seinen Tod das zerbrochene Verhältnis zwischen Menschen und Gott wieder in Ordnung bringen wollte, beide in einem neuen Bund wieder zusammenbringen, haben wir das vielleicht nicht nötig?

Wie ein unbeflecktes, also ein unschuldiges Lamm wird er geopfert. Er ist wie der Sündenbock, der in Israel alljährlich am großen Versöhnungstag stellvertretend für die Sünden des Volkes in die Wüste geschickt wurde. Doch zwei große Unterschiede sind da: Jesus geht freiwillig. Und: Nachdem er seinen Weg ging, ist kein neuer Sündenbock mehr nötig. So ist der Karfreitag auch in der christlichen Kirche der große Versöhnungstag zwischen Gott und Mensch. Wir singen den zweiten Vers des Liedes 87. ...

Einer zahlt die Zeche

3. Dein Kampf ist unser Sieg, dein Tod ist unser Leben; in deinen Banden ist die Freiheit uns gegeben. Dein Kreuz ist unser Trost, die Wunden unser Heil, dein Blut das Lösegeld, der armen Sünder Teil.

Es gibt in unserer Bibel verschiedene Versuche, dieses unbegreifliche Geschehen zu deuten: Für uns ist es geschehen, so hören wir im Abendmahl. "Für dich gegeben. Für dich vergossen." Schauen Sie einmal, wie oft das Wörtchen "uns" in diesem Vers vorkommt. Da hält einer für alle den Kopf hin. Da nimmt einer freiwillig alles auf sich. Da zahlt einer für die anderen die Zeche.

Eine zweite Art, den Tod Jesu zu verstehen: Jesus zahlt das Lösegeld. Dahinter steht, daß man damals Sklaven bei ihrem Besitzer gegen Geld freikaufen und ihnen damit ihre Freiheit schenken konnte. So ähnlich hat Jesus das Lösegeld gezahlt für die an ihre Schuld, ihren Egoismus und ihre Triebe verkauften Menschen. Wir singen den dritten Vers des Liedes 87. ...

Kirche im Dienst der Politik

4. O hilf, daß wir auch uns zum Kampf und Leiden wagen und unter unsrer Last des Kreuzes nicht verzagen; hilf tragen mit Geduld durch deine Dornenkron, wenn's kommen soll mit uns zum Blute, Schmach und Hohn.

Nicht nur im persönlichen Leben hat Adam Thebesius schwere Zeiten erlebt. "Kampf und Leiden, Blut, Spott und Hohn". Das weist versteckt hin auf die sog. Gegenreformation: Auch in Schlesien erstarkte der Katholizismus wieder, und evangelischen Pfarrern und Gemeinden wurde das Leben schwer gemacht. Aber, um keine falsche Feindschaft aufkommen zu lassen: Es waren z.Zt. des 30jährigen Krieges weniger die Glaubensgründe als politische Gründe. Damals schon haben Politiker sich den Glauben zunutze gemacht und demagogisch für ihre Zwecke eingesetzt. Solchen Kampf und solches Leiden erleben wir unter uns heute, Gott sei Dank, nicht. Wir denken eher an persönliches Leid, wie es dann im nächsten Vers beschrieben wird. Wir singen den vierten Vers des Liedes 87. ...

Gethsemane: durchwachte Nächte heute

5. Dein Angst komm uns zugut, wenn wir in Ängsten liegen; durch deinen Todeskampf laß uns im Tode siegen; durch deine Bande, Herr, bind uns, wie dir's gefällt; hilf, daß wir kreuzigen durch dein Kreuz Fleisch und Welt.

An Gethsemane werden wir erinnert, an Jesu Angst und seinen Kampf mit Gott, seinem Vater. Und wie am Ende des Kampfes steht: "Herr, nicht mein, sondern dein Wille geschehe." Wieviele solche Gethsemanes werden heute noch namenlos und unbekannt erlebt? Durchwachte, durchgekämpfte Nächte: Ob es nicht doch vielleicht eine andere Lösung, einen anderen Ausgang geben könnte? Wir singen den fünften Vers des Liedes 87. ...

Jesus umsonst gestorben?

6. Laß deine Wunden sein die Heilung unsrer Sünden, laß uns auf deinen Tod den Trost im Tode gründen. O Jesu, laß an uns durch dein Kreuz, Angst und Pein dein Leiden, Kreuz und Angst ja nicht verloren sein.

Könnte das alles vielleicht gar verloren sein? Könnte Jesus gar umsonst gestorben sein? so fragt Thebesius zum Schluß. Ja, wenn wir nichts gelernt hätten: Wenn wir z.B. das Erschrecken verlernen über diesen Tod. Wenn wir nicht mehr über die Abgründe in uns selbst erschrecken. Wenn wir immer mehr abstumpfen und uns mit den Schmerzensmännern der heutigen Welt einfach zufrieden geben. Wir singen den letzten Vers des Liedes 87.

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Michael Thein • Pfarrer • Kaulbachstraße 2b• 95447 Bayreuth • Tel. 0921-65378 • Fax 03222-2426857

mic.thein@t-online.de www.michael-thein.de