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Die Predigt vom 16. September 2001: »Kain und Abel?«


Kirchenjahr

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  Die Evangelische Kirche beging den 14. Sonntag nach Trinitatis. Aber selbstverständlich prägte der Terroranschlag in den USA den Gottesdienst und auch die Predigt mehr. Ich habe versucht, den Predigttext des Tages auf das Geschehen hin auszulegen. 1. Buch Mose Kapitel 28:

Predigttext

Sie können Texte auch online in der Lutherbibel nachlesen.
(Weitere Bibellinks finden Sie unter
Glaube und Leben.)

  10 Aber Jakob zog aus von Beerscheba und machte sich auf den Weg nach Haran 11 und kam an eine Stätte, da blieb er über Nacht, denn die Sonne war untergegangen. Und er nahm einen Stein von der Stätte und legte ihn zu seinen Häupten und legte sich an der Stätte schlafen. 12 Und ihm träumte, und siehe, eine Leiter stand auf Erden, die rührte mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder. 13 Und der HERR stand oben darauf und sprach: Ich bin der HERR, der Gott deines Vaters Abraham, und Isaaks Gott; das Land, darauf du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. 15 Und siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst, und will dich wieder herbringen in dies Land. Denn ich will dich nicht verlassen, bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe.
16 Als nun Jakob von seinem Schlaf aufwachte, sprach er: Fürwahr, der HERR ist an dieser Stätte, und ich wußte es nicht! 17 Und er fürchtete sich und sprach: Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts anderes als Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels. 18 Und Jakob stand früh am Morgen auf und nahm den Stein, den er zu seinen Häupten gelegt hatte, und richtete ihn auf zu einem Steinmal und goß Öl oben darauf 19 und nannte die Stätte Bethel; vorher aber hieß die Stadt Lus. 20 Und Jakob tat ein Gelübde und sprach: Wird Gott mit mir sein und mich behüten auf dem Wege, den ich reise, und mir Brot zu essen geben und Kleider anzuziehen 21 und mich mit Frieden wieder heim zu meinem Vater bringen, so soll der HERR mein Gott sein. 22 Und dieser Stein, den ich aufgerichtet habe zu einem Steinmal, soll ein Gotteshaus werden.

Predigt

  Jakob: Der Betrüger wird gesegnet

"Und Jakob zog aus von Beerscheba und machte sich auf den Weg nach Haran." So friedlich, wie das klingt, war es damals nicht: Seine Mutter Rebekka rät ihm, sich in der Ferne, in der Heimat, aus der sie kam, eine Frau zu suchen. Es ist nur ein Vorwand um des Friedens willen. Jakob soll fliehen, weil sein Bruder Esau ihn bei nächster Gelegenheit umbringen will. Jakob, der gewieftere von beiden, hat seinen körperlich überlegenen Bruder um das Erbe betrogen, das ihm als dem Erstgeborenen zugestanden hätte. Ruhelos und heimatlos ist Jakob unterwegs - auf der Suche nach einer neuen Heimat. Im Freien muß er schlafen. Ein Stein ist sein Kopfkissen. Es wäre also kein Wunder gewesen, wenn er wegen seines schlechten Gewissens und aus Angst vor seinem Bruder Albträume gehabt hätte.

Aber nein, er träumt in jener Nacht, daß ihm der Himmel offen steht. Gott ermutigt und segnet ihn, er segnet den Betrüger. Er segnet nicht den Betrug, aber den Menschen. Und der spürt: Das hat er nicht verdient. Er wacht auf und merkt: An einer heiligen Stätte hat er geschlafen. Er fürchtet sich. Ein heiliger Schauer überkommt ihn. Jakob richtet einen Stein zu einem Denkmal auf und gießt Salböl darüber. Eine Kirchweihe ist das sozusagen. Der Ort, an dem ihm Gott begegnet ist, wird zum heiligen Ort erklärt. Aber: Entscheidend ist nicht der Ort, sondern die Begegnung und das Erwachen.

Und ein zweites spürt Jakob: Er kann nicht bleiben, wie er ist. Wenn Gott ihn ermutigt und segnet, obwohl er es nicht verdient hat, dann muß sich in seinem Leben fortan etwas ändern. Er tut ein Gelübde: Wenn eintrifft, was Gott ihm versprochen hat, wenn alles wieder gut wird, dann will er Gott nicht mehr vergessen.

Jakob und das Geschehen in den USA

Wirft dieser heutige Abschnitt aus dem 1. Buch Mose auch ein Licht auf diese vergangene Woche, die bis Dienstagmittag so normal begann, wie jede andere, und nun ist auf einmal die ganze Welt anders geworden? Geht es uns, geht es der Welt vielleicht ein wenig wie dem Jakob, der zutiefst erschrocken ist, der aufwacht und merkt, daß er unverdient noch einmal davongekommen ist? Gewiß, das Unrecht, das ihn ruhelos und heimatlos gemacht hat, das hat Jakob damals selbst verursacht. Er hat seinem Bruder abgeluchst, was ihm nicht zustand. Der Zorn seines Bruders, der ihn zur Flucht treibt, den hat er verdient.

Es wäre zynisch gegenüber den vielen unschuldigen Opfern, und es würde das Verhältnis zwischen Täter und Opfer auch auf den Kopf stellen, wenn man nun sagen würde, Amerika und mit ihm zusammen die westliche Welt hätten diese Entwicklung der Dinge selber heraufbeschworen. Aber könnte da nicht doch auch ein Fünkchen Wahrheit sein?

Den Feind lieben?

Wir sind von Christus her, der zur Feindesliebe aufgerufen hat, eingeladen, es wenigstens zu versuchen, uns auch in die Denkweise dessen einzufühlen, der unser Feind ist. Woher könnte ein solcher abgrundtiefer und kranker Haß kommen, der Menschen zu solchen Taten befähigt, daß es auch keine Skrupel mehr vor dem Leben Unschuldiger gibt. Woher könnte es kommen, daß Menschen an manchen Orten dieser Erde auch laut gejubelt haben, als sie diese Nachricht erreicht hat? Ist da auch ein versteckter Bruderkonflikt wie zwischen Jakob und Esau? Haß aus Enttäuschung? Haß, weil man sich zurückgesetzt und betrogen fühlt?

Die islamische Welt hat in der Nachkriegszeit den christlichen Westen immer wieder wie eine Art großen Bruder erlebt, der das Sagen hat und sich überall einmischt. Der sich vor allem dann einmischt, wenn er seine Interessen bedroht fühlt. Der sich dann einmischt, wenn es etwas zu holen gibt, sei es Öl oder andere Schätze dieser Erde.

„Großer Gott, steh uns bei!“

Und dann geschieht dieses Unfaßbare und bei allem Verständnis auch Unentschuldbare, das Menschen ruhelos und heimatlos macht, wie den Jakob auf der Flucht. Und siehe da, in dieser Ausnahmesituation bleibt auch vielen Zeitgenossen, die ihn schon gar nicht mehr kannten, nur noch die Flucht zu Gott. Mitten am Tag wachen sie auf aus dem Schlaf, sie schrecken auf aus ihren Träumen wie Jakob und erschauern. Ich lese die deutsche Zeitung mit den vier Buchstaben nicht, aber im Fernsehen konnte man am Mittwoch das große Titelbild sehen: Das Flammeninferno und dazu in großen Lettern über eine volle halbe Seite: "Großer Gott, steh uns bei." Wenn es einem so an die Nieren geht, dann hilft nur noch Gott, dann hilft nur noch Beten.

Wir brauchen heilige Orte

Was macht Jakob in seinem Erschauern? Er braucht einen heiligen Ort. Die Gottesbegegnung braucht einen Ort, an dem man sie festhalten kann. Und so haben auch in diesen Tagen die Menschen die Kirchen wieder gesucht, die Gemeinschaft gesucht, die Stille gesucht und das Schweigen. Vielleicht so viele, wie seit der friedlichen Revolution 1989 nicht mehr. Wenn wir zutiefst erschüttert sind, brauchen wir heilige Orte. Wenn der Boden unter den Füßen schwankt, seelisch oder körperlich, brauchen wir festen Grund. Es muß gar nicht unbedingt eine Kirche sein. Bethel ist überall. Die Gottesbegegnung ist wichtiger als der Ort. Da kann auch eine Straßenecke zum heiligen Ort werden, wo Blumen und Kerzen stehen, wo Menschen aufeinander zu gehen und gemeinsam schweigen.

Wie geht es weiter?

Und was hat Jakob noch gemacht? Er hat ein Gelübde getan: Wenn das alles noch einmal gut geht, dann ..., ja dann ... Was lernen wir, was lernt der Westen, was lernt die Welt aus dem Geschehen dieser Woche? Wird nach gewisser Zeit alles wieder zur Tagesordnung übergehen, wenn einmal die Schutthaufen weggeräumt sein werden und der Staub in Manhattan verflogen ist?

Wem werden sich dann die Medien zuwenden, denen die große Sensation jetzt natürlich von einer Stunde auf die andere viel wichtiger war als die kleine Sensation einer Politikerbeziehung?

Werden die, die jetzt in ihrem Erschauern so laut nach Gott geschrien haben, ihn vielleicht ähnlich wieder vergessen wie nach der vollzogenen Wende?

Eskaliert nun der Konflikt der ungleichen Brüder, indem Böses mit Bösem vergolten wird, und Rachegelüste zur Triebfeder der Politik werden? Steht es der westlichen Welt, die sich im Gegensatz zum Islam auf Christus beruft, wirklich an, das Denken der Radikalen aufzunehmen und den Feind zum Teufel zu erklären? Für den radikalen Islam war Amerika schon immer der große Teufel. Und nun greift man auch in den USA diesen unseligen Gegensatz zwischen Gut und Böse wieder auf. Noch vor Jahren hat man das Reich des Bösen, gegen das der Gute kämpfen muß, in der kommunistischen UdSSR gesehen. Das ist Geschichte. Kann denn das Reich der Finsternis wirklich immer dort sein, wo es gerade politisch gebraucht wird?

Turmbau zu Babel?

Oder wird sich vielleicht doch ein Gespür dafür durchsetzen, daß wir lernen müssen, auch im Weltmaßstab wie Brüder miteinander umzugehen? Nicht unbedingt wie Brüder, die sich herzlich lieb haben, aber wie Brüder, die einander leben lassen? Wann wird man z.B. in Israel und Palästina aufhören, sich an Kain und Abel zu orientieren und von dem Brüderpaar Jakob und Esau lernen, die sich am Ende versöhnt haben und Platz für sich beide fanden?

Sind durch den Schock der Ereignisse den Verantwortlichen ähnlich wie beim Turmbau zu Babel vielleicht auch die Grenzen wieder deutlicher geworden? Die Grenzen des weltweiten Wirtschaftens. Die Grenzen einer Rüstung, die doch keine Sicherheit bieten kann. Die Grenzen einer Menschheit, deren Bäume in den Himmel wachsen sollten.

Mehr Fragen als Antworten, gewiß. Aber wie könnte es fünf Tage nach dem Geschehen auch anders sein? Ein Gebet chinesischer Christen:
Herr, erwecke deine Kirche und fange bei mir an.
Herr, baue deine Gemeinde auf und fange bei mir an.
Herr, laß Frieden und Gotteserkenntnis überall auf Erden kommen und fange bei mir an.
Herr, bringe deine Liebe und Wahrheit zu allen Menschen und fange bei mir an.

Amen

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Michael Thein • Pfarrer • Kaulbachstraße 2b• 95447 Bayreuth • Tel. 0921-65378 • Fax 03222-2426857

mic.thein@t-online.de www.michael-thein.de