Startseite | Impressum | Kontakt
predigt[e].de

Die Predigt vom 28. Oktober 2001: »Fundamentalismus«

Kirchenjahr

Evang. Kirchenjahr: Überblick
Evang. Kirchenjahr: Hinweise
Feiertagskalender (Tabelle)

  Die Evangelische Kirche beging den 20. Sonntag nach Trinitatis, der die Gebote Gottes zum Thema hat. Im Evangelium geht es um die Stellung Jesu zur Ehescheidung. In der Epistel ruft Paulus zu einem verantwortlichen Leben auf. Predigttext war die Erzählung vom sog. Ährenraufen am Sabbat mit der Frage: „Was steht höher, das Gebot oder der Mensch?“ Markusevangelium Kapitel 2:

Predigttext

Sie können Texte auch online in der Lutherbibel nachlesen.
(Weitere Bibellinks finden Sie unter
Glaube und Leben.)

  23 Und es begab sich, daß er am Sabbat durch ein Kornfeld ging, und seine Jünger fingen an, während sie gingen, Ähren auszuraufen. 24 Und die Pharisäer sprachen zu ihm: Sieh doch! Warum tun deine Jünger am Sabbat, was nicht erlaubt ist? 25 Und er sprach zu ihnen: Habt ihr nie gelesen, was David tat, als er in Not war und ihn hungerte, ihn und die bei ihm waren: 26 wie er ging in das Haus Gottes zur Zeit Abjatars, des Hohenpriesters, und aß die Schaubrote, die niemand essen darf als die Priester, und gab sie auch denen, die bei ihm waren? 27 Und er sprach zu ihnen: Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen. 28 So ist der Menschensohn ein Herr auch über den Sabbat.

Predigt

  „Fundamentalismus“

Vom "Fundamentalismus" ist in diesen Wochen viel die Rede, v.a. vom islamischen Fundamentalismus, von einer radikalen und politischen Auslegung des Islam, die von der Mehrheit der Muslime nicht geteilt wird.

Doch "Fundamentalismus" ist eigentlich ein christlicher Begriff. Er kommt von dem englischen Wort "fundamentals": wichtige, unverrückbare Grundsätze. Solche "fundamentals" hat eine christliche konservative Bewegung in Amerika zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts als eine Art Glaubensbekenntnis aufgestellt. Man wollte eindeutig sagen können: Wer ist noch ein Christ? Und wer ist es nicht mehr? Zu diesen fundamentals gehörte dann z.B., dass man wortwörtlich an die Jungfrauengeburt oder die Erschaffung der Erde in sieben Tagen glauben muss. Auslegung und Interpretation ist nicht möglich.

Fundamentalismus und Radikalismus

Fundamentalismus ist gut gemeint. Er geschieht im Namen Gottes. Man meint, Gott damit zu dienen. Das ist das Positive: Fundamentalisten ist noch etwas heilig. Sie haben noch Grundsätze. Sie machen nicht alles mit, was die moderne Welt mit sich bringt.

Die Kehrseite aber ist: Oft steht dahinter eine Angst vor allem Neuen und Fremden, das die moderne Welt mit sich bringt. Fundamentalismus ist eine Art Flucht in eine feste Burg. In der Überzeugung, dass sie auf dem rechten Weg sind, geht es Fundamentalisten um alles oder nichts. Sie machen keine Kompromisse. Man kann mit ihnen nicht diskutieren. Ja, zur Not müssen auch Menschen den Prinzipien geopfert werden. Und so wird Fundamentalismus zum Radikalismus.

Fundamentalismus heute

Es gibt solchen Fundamentalismus heute auf allen Seiten: Fundamentalismus ist es, wenn die Taliban in Afghanistan Frauen ins Haus zwingen, Mädchen die Schulbildung verweigern oder uralte Buddhastatuen, die zum Kulturerbe der Menschheit gehören, rücksichtslos zerstören.

Fundamentalismus ist es auch, wenn in Nordirland katholische Kinder, die auf dem Weg zu ihrer Schule durch eine protestantische Straße gehen, angefeindet, verängstigt und angegriffen werden.

Fundamentalismus ist es aber auch, wenn ihre protestantischen Eltern unbedingt mit ihnen diesen Weg gehen wollen, obwohl es einen anderen ungefährlichen Weg zur Schule gegeben hätte, wenn auch durch den Hintereingang.

Und auch in Israel und Palästina sind es vor allem die radikalen Fundamentalisten auf beiden Seiten, die den Konflikt immer wieder anheizen.

Es gab diesen Begriff damals noch nicht: Doch auch hinter den christlichen Kreuzzügen des Mittelalter stand eine Art radikaler Fundamentalismus. Mit dem Ruf "Deus vult." – "Gott will es" ist man damals nach Palästina aufgebrochen. Mit diesem Ruf hat man Massaker verübt.

Der Fundamentalismus der Pharisäer

Wie komme ich auf das unbequeme Thema? Auch zur Zeit Jesu gab es eine Art Fundamentalismus: Die Bewegung der Pharisäer, die strenge und orthodoxe Richtung, wollte den Willen Gottes, wie sie ihn in der Heiligen Schrift fand, 100prozentig und mit allen Konsequenzen erfüllen. Kompromisslos und radikal. Das Gebot war im Zweifelsfall wichtiger als der Mensch.

Wir begegnen einem solche Fundamentalismus bei der Ehebrecherin, die man steinigen wollte, und deren Liebhaber man hat laufen lassen. Als Jesus sagte "Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.", geht es ihm um die Frau als Mensch. Was sie getan hat, verurteilt er, doch sie soll am Leben bleiben.

In einer ähnlichen Art begegnet uns Jesus in der folgenden Geschichte, die der heutige Predigttext ist. Bei Markus im 2. Kapitel:

23 Und es begab sich, daß er am Sabbat durch ein Kornfeld ging, und seine Jünger fingen an, während sie gingen, Ähren auszuraufen. 24 Und die Pharisäer sprachen zu ihm: Sieh doch! Warum tun deine Jünger am Sabbat, was nicht erlaubt ist? 25 Und er sprach zu ihnen: Habt ihr nie gelesen, was David tat, als er in Not war und ihn hungerte, ihn und die bei ihm waren: 26 wie er ging in das Haus Gottes zur Zeit Abjatars, des Hohenpriesters, und aß die Schaubrote, die niemand essen darf als die Priester, und gab sie auch denen, die bei ihm waren? 27 Und er sprach zu ihnen: Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen. 28 So ist der Menschensohn ein Herr auch über den Sabbat.

Fundamentalismus und Sabbat

Jawohl, es stimmt: Am Sabbat, am Feiertag soll man ruhen und Gott damit die Ehre geben. Die Zehn Gebote sind "fundamentals". An ihnen darf nicht gerüttelt werden. Wenn man die Zehn Gebote aufgibt, worauf soll man sich dann noch verlassen? Damit das dritte Gebot wirklich nicht verletzt wurde, hat man es zur Zeit Jesu ganz konsequent und ganz scharf ausgelegt. Wieviele Schritte man am Sabbat gehen durfte, welche Arbeiten man tun durfte, das war genau festgelegt.

Das hat sicher alles seinen guten Sinn, wenn es zum Leben hilft. Ich erinnere mich noch gut an meine Israelreise. Da war in der Gastwirtschaft, in der wir zu Beginn des Sabbats, also am Freitagabend gegessen haben, der Fernseher mit einem schwarzen Tuch verhängt. Unsere Speisen sind vor dem Beginn des Sabbats vorbereitet worden und standen bereit. Ist das wirklich so verkehrt, den Sabbat ganz der Familie zu gönnen und auch den gesprächstötenden Fernseher zu verbannen? Ist das schon Fundamentalismus?

Den Pharisäern, dieser Religionspolizei zur Zeit Jesu, gingen die Jünger Jesu zu weit. Sie brachen in ihren Augen das Sabbatgebot, als sie unterwegs Ähren abpflückten und die Körner herausglaubten, um sie zu essen. Essen durfte man ja: Aber was die Jünger taten, das war Erntearbeit und Essensvorbereitung und damit streng verboten! 24 Und die Pharisäer sprachen zu Jesus: Sieh doch! Warum tun deine Jünger am Sabbat, was nicht erlaubt ist? Und Jesus verteidigt seine Jünger, die wahrscheinlich schlicht und einfach Hunger hatten, sonst hätten sie sich nicht mit trockenen harten Körnern zufrieden gegeben. Er verteidigt sie mit einem Verweis auf den König David. David, das war der König der guten alten Zeit. An ihm und seinem Tun konnte es keine Zweifel geben. Hatte nicht auch David damals seine Leute von den heiligen Broten des Tempels essen lassen, als sie Hunger hatten? 25 Und er sprach zu ihnen: Habt ihr nie gelesen, was David tat, als er in Not war und ihn hungerte, ihn und die bei ihm waren: 26 wie er ging in das Haus Gottes zur Zeit Abjatars, des Hohenpriesters, und aß die Schaubrote, die niemand essen darf als die Priester, und gab sie auch denen, die bei ihm waren? 27 Und er sprach zu ihnen: Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen.

Fundamentalismus und das Wohl des Einzelnen

Wenn es um ein Menschenleben geht, dann ist dieses Leben höher anzusetzen als jedes allgemeine Prinzip. Das ist das Gegenteil von Fundamentalismus, der sagt: Das Gebot muss in Geltung bleiben, egal, was passiert. Man könnte mit heutigen Begriffen sagen: Was Jesus da für seine Jünger in Anspruch genommen hat, war eine "Notlagenindikation". Diesen Begriff hat man bei der Diskussion um den Schwangerschaftsabbruch geprägt: Wenn die Schwangerschaft zu einer Notlage der Mutter führt, wenn das Leben der Mutter gefährdet wäre, dann wäre auch ein Schwangerschaftsabbruch möglich. Es hat auch in dieser Diskussion Christen gegeben und es gibt sie noch, die sagen: "Nein! Wer legt denn fest, was eine Notlage ist? Abtreibung ist und bleibt unter allen Umständen Mord." Das ist eine Haltung wie damals bei den Pharisäern. Das ist eine Art christlicher Fundamentalismus.

Jesus und der Fundamentalismus

Aber Jesus geht damals noch einen Schritt weiter. Nicht nur, weil es um eine Notlage geht, wie damals bei David, verteidigt er seine Jünger. Nein, er ist eine Art neuer David. Er steht über dem sturen und kalten Gesetz: 28 So ist der Menschensohn ein Herr auch über den Sabbat. Mit dieser Notlagenindikation hätten die Pharisäer wahrscheinlich noch leben können. Es war auch ihre Art, das jüdische Gesetz spitzfindig und dabei im Prinzip lebensbejahend auszulegen. Doch dass Jesus sich so deutlich über das Gesetz stellt, das bringt ihm von diesem Tag an Feinde ein. Und die Feindschaft wird sich noch steigern: Als er am Sabbat den Menschen mit der verkrüppelten Hand heilt, dann die sogenannte "verkrümmte Frau", die sich nicht mehr aufrichten konnte, dann einen Gelähmten und schließlich einen Blinden. Jesus will im Namen Gottes dem Sabbat sozusagen seine ursprüngliche Bedeutung wiedergeben: frei werden und aufatmen soll der Mensch an diesem Tag, nicht gebeugt sein, auch nicht von spitzfindigen Gesetzen.

Sonntagsheiligung heute

Und wir heute: Wir können in unserer komplizierten Gesellschaft die Sonntagsheiligung nicht mehr fundamentalistisch hochhalten. Und wir sollen es in Jesu Augen auch nicht. Kranke und Alte müssen gepflegt, und die öffentliche Versorgung muss auch am Sonntag aufrechterhalten werden: um der Menschen willen.

Aber geschieht wirklich alles, was am Sonntag geschieht, um der Menschen willen? Muss jemand wirklich am Sonntag einkaufen können? Muss jemand am Sonntag Haus, Hof und Auto in Ordnung bringen? Muss jemand unbedingt am Sonntag länger in der Küche stehen als sonst?

Christlicher Fundamentalismus?

Und auch noch ein politischer Ausblick: Wenn es beim derzeitigen Kampf gegen den Terror wirklich um den Menschen geht, dann wären die Politiker im Westen gut beraten, die Kampfhandlungen in Afghanistan vor dem Ramadan, dem islamischen Fastenmonat, einzustellen. Der Respekt vor dem Islam als Weltreligion, die ja nicht im Ganzen radikal ist, gebietet es. Und das Leben der vielen Flüchtlinge zwischen den Fronten gebietet es. Wenn es nicht geschieht, würden wir uns im sog. christlichen Westen des gleichen Fundamentalismus schuldig machen, den wir anderswo bekämpfen. Dann ginge es nur noch ums Prinzip und nicht mehr um die Menschen. Ihr Wohl, aus welchem Land immer sie kommen, muss nach den Worten Jesu ganz oben stehen.

nach oben

Michael Thein • Pfarrer • Kaulbachstraße 2b• 95447 Bayreuth • Tel. 0921-65378 • Fax 03222-2426857

mic.thein@t-online.de www.michael-thein.de