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Die Predigt |
Worte, die durchdringen
Bei Todesfällen und Schicksalsschlägen kann man erleben,
wie wenig unsere eigenen Worte ausrichten, auch wenn sie noch so gut
gemeint sind. Sie erreichen das Herz nicht. Sie können den Panzer
der Trauer nicht durchdringen. Und dann kommen in unserer Hilflosigkeit
Trauernden gegenüber solche Floskeln wie „Kopf hoch!“
oder „Es wird schon wieder.“
Doch es gibt Bibelworte, die entwickeln eine ganz andere Kraft. Das
kann man dann bei einer Trauerfeier manchmal erleben, dass mit einem
solchen Wort auf einmal jemand den Kopf hebt, dass Bewegung in ein
versteinertes Gesicht kommt. Es gibt sie, diese alten bewährten
Worte, die auch den Panzer der Trauer durchdringen können. Worte,
in denen sich jemand von Gott verstanden und unmittelbar angesprochen
fühlt, z.B. dieses:
Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine
Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll
nicht hinfallen, spricht der HERR, dein Erbarmer.
Bei einem Todesfall oder anderen einschneidenden Erlebnissen geraten
wirklich vorher felsenfest stehende Berge ins Wanken, gerät die
geordnete Welt aus den Fugen, ereignet sich eine Art seelisches Erdbeben.
Und dann hört jemand: „Es mag im Moment wirklich alles
über dir zusammenbrechen, aber ich, Gott, lasse dich nicht fallen.
Ich habe dich nicht vergessen. Ich habe mich nicht von dir zurückgezogen.
Auch wenn es auf den ersten Blick so scheinen mag."
Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine
Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll
nicht hinfallen, spricht der HERR, dein Erbarmer.
Wenn der Glaube zu zerbrechen droht
Ein Wort des Propheten Jesaja. Die ersten Hörer dieses Wortes
waren vor 2.500 Jahren Menschen in Israel. Sie hatten auch ihre Katastrophe,
ihr seelisches Erdbeben hinter sich. Vielen ist der Glaube zerbrochen,
als die Babylonier damals die Stadt Jerusalem mitsamt dem Tempel dem
Erdboden gleich machten, und die entscheidenden Schichten der Bevölkerung
in die Verbannung führten.
Und dann tritt nach fast 50 Jahren Trauerarbeit der Prophet Jesaja
im Exil an die Öffentlichkeit und verkündet dem Volk die
überraschende Wende: Keineswegs hat sich Gott von ihnen abgewandt,
als sie in die Verbannung mussten. Er hat auch in dieser Zeit das
Heft der Geschichte in der Hand gehalten. Sie selbst, die Israeliten,
hatten sich in eine Sackgasse manövriert. Und er hat sie nicht
aufgehalten. Er hat sie laufen lassen. Aber nun:
7 Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit großer
Barmherzigkeit will ich dich sammeln. 8 Ich habe mein Angesicht im
Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen, aber mit ewiger
Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der HERR, dein Erlöser.
9 Ich halte es wie zur Zeit Noahs, als ich schwor, dass die Wasser
Noahs nicht mehr über die Erde gehen sollten. So habe ich geschworen,
dass ich nicht mehr über dich zürnen und dich nicht mehr
schelten will. 10 Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel
hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund
meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der HERR, dein Erbarmer.
(Worte aus dem Buch des Propheten Jesaja Kapitel 54.)
Ein enttäuschter Gott
7 Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit großer
Barmherzigkeit will ich dich sammeln.
50 Jahre lebten sie in der Verbannung. Die meisten aus der ersten
Generation waren schon weggestorben, ohne die Heimat wieder zu sehen.
Viele in der zweiten Generation hatten sich mit der neuen Lage arrangiert.
50 Jahre, für Gott ein Augenblick, wörtlich: so kurz wie
ein Augenzwinkern.
Eine Art erzieherische Maßnahme, so sieht es der Prophet: Gott
handelt wie ein Vater, der aus Enttäuschung und Ärger für
kurze Zeit nicht mehr mit seinem Kind redet, sich ihm für kurze
Zeit entzieht. Er spürt: Jetzt muss er einmal Härte zeigen,
auch wenn es ihm selber am schwersten fällt.
Ein leidenschaftlicher Gott
8 Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor
dir verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen,
spricht der HERR, dein Erlöser.
Ja, Gott hat nicht nur für einen Moment weggeblickt und die Sache
laufen lassen. Er war gekränkt. Er war zornig. Er hat sich geärgert.
Zorn und Liebe schließen sich nicht aus. Wer liebt, ist auch
leidenschaftlich. Zorn ist nicht das Gegenteil der Liebe. Das Gegenteil
der Liebe ist die Gleichgültigkeit. Und Gott war es eben nicht
gleichgültig, wo sein Volk stur und kopflos hingerannt ist.
Und dann wieder dieser himmelweite erlösende Gegensatz vom Vers
vorher: Zorn für die Dauer eines Augenzwinkerns – aber
ewige Gnade.
Warum Gott sich für einen Moment zurückgezogen hat, warum
er zornig war, steht nicht hier. Von Schuld redet der Prophet Jesaja
nicht, nur von der enttäuschten Leidenschaft Gottes. Gott kartet
nicht nach. Er tritt nicht nach. Er schmiert nicht die Vergangenheit
genüsslich aufs Butterbrot. Wer diese Leidenschaft entdeckt,
mit der Gott ihm nachgeht, der entdeckt automatisch auch, wo er vorher
in die Irre gegangen ist. Es ist allemal fruchtbarer, selbst seine
falschen Wege einzusehen, als sie von anderen vorgehalten zu bekommen.
Ein treuer Gott
9 Ich halte es wie zur Zeit Noahs, als ich schwor, dass die Wasser
Noahs nicht mehr über die Erde gehen sollten. So habe ich geschworen,
dass ich nicht mehr über dich zürnen und dich nicht mehr
schelten will.
Die Israeliten werden von Jesaja an ihre Geschichte erinnert: Wisst
Ihr nicht, wie es damals bei Noah war? Wo Gott nach der Sintflut zum
selben Ergebnis kam wie vor der Sintflut: dass alles Dichten und Trachten
des menschlichen Herzens böse ist. Und Gott also - ganz menschlich
gesagt - erkennen muss, dass alles Strafen nichts hilft.
21 Und der HERR ... sprach in seinem Herzen: Ich will hinfort
nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen; denn das Dichten
und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.
Und ich will hinfort nicht mehr schlagen alles, was da lebt, wie ich
getan habe. 22 Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat
und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht. (1.
Mose 8,21-22)
Diese Zusage Gottes wiederholt und erneuert Jesaja nun am Ende der
Verbannungszeit. Gottes Treue bleibt bestehen, auch wenn es für
kurze Zeit anders ausgesehen haben mag.
Gott reicht neu die Hand
Und dann abschließend dieses so bekannte, starke Wort:
10 Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen,
aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens
soll nicht hinfallen, spricht der HERR, dein Erbarmer.
Gottes „Gnade“, wörtlich übersetzt: seine Verbundenheit,
seine Treue stehen unerschütterlich. Seine Friedenszusage fällt
nicht.
Von „Bund“ spricht die Bibel, wenn Gott den Menschen von
sich aus die Hand reicht, wenn er von sich aus eine Bindung und eine
Verpflichtung eingeht.
Gott geht mit Noah einen Bund ein und rettet ihn und seine Familie
aus der Sintflut. Gott schließt mit Abraham einen Bund, dass
er ihm das verheißene Land geben will und er zum Vater vieler
Völker werden soll. Gott bekräftigt am Berg Sinai unter
Mose seinen Bund mit dem Volk Israel und verspricht Treue auf tausend
Generationen.
So wie Jesaja hatte im Alten Testament noch nie jemand von der Nähe
Gottes geredet. Und doch wurde, so würden wir es als Christen
vom Neuen Testament her sagen, Gottes Leidenschaft wieder enttäuscht.
Und so tut Gott in Jesus den letzten entscheidenden Schritt. Er lässt
seine Nähe nicht nur warmherzig ankündigen, sondern er kommt
selber und wird in Jesus einer von uns. Dieser neue Bund hebt die
alten Bundesschlüsse und Versprechen Gottes nicht auf, aber er
geht weit darüber hinaus. „Dies ist der neue Bund in meinem
Blut“. Das wird uns im Abendmahl immer neu zugesprochen.
Reifen auf dem Lebensweg
50 Jahre Gottverlassenheit in den Augen der Menschen. Für Gott
selber ein Augenzwinkern. Wären die Israeliten für diese
Gnadenzusage aus dem Mund des Jesaja schon eher reif gewesen? Reift
jemand ohne Trauerarbeit? Reift jemand ohne die Möglichkeit,
sich im Rückblick auf die eigenen Irrwege und Abwege zu besinnen?
Ich denke an die Angefochtenen unter uns. An die, die eine Zeitlang
oder gar endgültig an Gott zweifeln: Müssen sie vielleicht
auch erst geduldig durch die Anfechtung ihrer Babylonischen Gefangenschaften
hindurch, bis die Erkenntnis reifen kann, dass Gott trotz allem treu
bleibt?
Dem dänischen Philosophen und Theologen Sören Kierkegaard
wird das Wort zugeschrieben: „Leben muss man das Leben vorwärts,
aber verstehen kann man es nur rückwärts.“ Wer Erschütterungen
und seelische Erdbeben erlebt, kann noch nicht gleich verstehen. Er
muss erst einmal nach vorne leben, bis dann wie bei den Israeliten
einmal der Zeitpunkt kommt, wo eine Rückschau möglich wird:
eine Rückschau auf die eigenen Wege und auf Gottes Wege mit mir.
Und dann ist es ein Segen, wenn es auch heute Menschen gibt, die wie
Jesaja im Auftrag Gottes einem Menschen sagen: Gott hat dich nicht
vergessen, egal, was gewesen ist. Sein Bund steht: Erinnere dich an
die Zusage deiner Taufe. Erinnere dich an die Zusage deiner Konfirmation.
Komm zum Abendmahl. Da reicht dir Gott neu die Hand.
Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine
Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll
nicht hinfallen, spricht der HERR, dein Erbarmer.
Amen |
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