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Die Predigt |
Singen in der Anfechtung
„Die Musik ist die beste Gottesgabe. Durch sie werden viele
und große Anfechtungen verjagt. Musik ist der beste Trost für
einen verstörten Menschen, auch wenn er nur ein wenig zu singen
vermag.“
So lesen wir von Martin Luther im Gesangbuch (auf S. 594).
Singen, wenn es einem schlecht geht? Singen, wenn einem nicht nach
Singen, sondern nach Weinen und Klagen zumute ist? Singen in Anfechtung?
Singen auf Befehl, weil es heute am Sonntag Kantate im kirchlichen
Kalender steht?
Hören Sie Worte aus dem Buch der Offenbarung im 15. Kapitel:
2 Und ich sah, und es war wie ein gläsernes Meer, mit Feuer
vermengt; und die den Sieg behalten hatten über das Tier und
sein Bild und über die Zahl seines Namens, die standen an dem
gläsernen Meer und hatten Gottes Harfen 3 und sangen das Lied
des Mose, des Knechtes Gottes, und das Lied des Lammes: Groß
und wunderbar sind deine Werke, Herr, allmächtiger Gott! Gerecht
und wahrhaftig sind deine Wege, du König der Völker. 4 Wer
sollte dich, Herr, nicht fürchten und deinen Namen nicht preisen?
Denn du allein bist heilig! Ja, alle Völker werden kommen und
anbeten vor dir, denn deine gerechten Gerichte sind offenbar geworden.
Die Situation der Christenverfolgung
Auch denen, an die diese Worte geschrieben worden sind, war nicht
nach Singen, sondern eher nach Klagen und Schreien zumute: Vom Seher,
vom Propheten Johannes – nicht zu verwechseln mit dem Evangelisten
– stammt das letzte Buch unserer Bibel. Er schreibt an christliche
Gemeinden im damaligen Kleinasien, der heutigen Türkei, und stärkt
sie in der Zeit der Christenverfolgung. Es war nicht die Zeit der
offenen Worte, sondern der versteckten Botschaften. Man muss also,
wenn man das Buch der Offenbarung liest, die Geheimsprache der Bilder
verstehen:
Die Christen und die Bestie
2 Und ich sah, und es war wie ein gläsernes Meer, mit Feuer
vermengt; und die den Sieg behalten hatten über das Tier und
sein Bild und über die Zahl seines Namens ...
Das „Tier“: Damit wird an Offenbarung 13 erinnert. Dort
wird das Böse, der Böse, der große Widersacher Gottes,
als ein Tier beschrieben, das aus dem Abgrund aufsteigt. Der römische
Kaiser und die Staatsmacht waren für die Christen damals der
Inbegriff des Bösen, doch so offen durfte man es nicht aussprechen.
So waren sie das Tier. Die Bestie, so heißt es heute in den
Fantasiefilmen. Wie ein böses Tier gebärdeten sie sich den
gegenüber, die dem Kaiser nicht als Gott huldigen wollten.
Das „Bild des Tieres“: Damit sind die Standbilder des
Kaisers gemeint, die im ganzen Reich seine Macht repräsentierten
und vor denen man opfern musste wie vor einem Altar.
Die „Zahl seines Namens“: 666 heißt diese Zahl nach
Offb 13,18. Sie wird von Abergläubischen als Zeichen des Bösen
verstanden so wie das umgedrehte Kreuz oder das Pentagramm, der fünfzackige
Stern. Wahrscheinlich verbirgt sich wie in einer Geheimsprache hinter
dieser Zahl der Kaiser Nero, der Inbegriff aller Christenverfolger.
Als Verfolgten, denen im äußersten Fall die Arena und die
wilden Tiere bevorstanden, ist ihnen damals nicht nach Singen zumute.
Sie werden vom Seher Johannes auch nicht dazu aufgefordert.
„Ich sah“, beginnen seine Worte. Eine prophetische Ansage.
Er blickt voraus in eine Zeit, die noch nicht da ist. Er sieht Dinge,
die jetzt noch utopisch sind: „Das Tier wird nicht siegen. Und
dann, wenn alles vorbei ist und Ihr Euch durchgekämpft habt,
dann werdet ihr miteinander vor dem Thron Gott stehen und das Lied
der Sieger singen.“
Die Bestie wird nicht siegen
... die standen an dem gläsernen Meer und hatten Gottes Harfen
3 und sangen das Lied des Mose, des Knechtes Gottes, und das Lied
des Lammes.
Die Erlösten werden das Lied des Mose singen: Das Lied der
Befreiung, das er zusammen mit seiner Schwester Miriam nach dem Durchzug
durch das Schilfmeer angestimmt hat. So wie Gott sein Volk aus Ägypten
geführt hat, so werden auch die jetzt noch Verfolgten Befreiung
erleben.
Sie werden das Lied des Lammes singen: Das Lamm, damit ist Jesus gemeint,
das Opferlamm, das sich selber hingegeben hat und den Sieg davon getragen
hat. So wie Gott ihn aus dem Tod ins Leben geholt und dem Tod die
Macht genommen hat, so werden auch sie als Sieger aus ihrem jetzigen
Kampf hervorgehen.
Warum haben sie Grund zum Singen?
4 Wer sollte dich, Herr, nicht fürchten und deinen Namen
nicht preisen? Denn du allein bist heilig! Ja, alle Völker werden
kommen und anbeten vor dir, denn deine gerechten Gerichte sind offenbar
geworden. Groß und wunderbar sind deine Werke, Herr, allmächtiger
Gott! Gerecht und wahrhaftig sind deine Wege, du König der Völker.
Wenn es auch jetzt noch nicht den Augenschein hat, wenn auch jetzt
noch alles dagegen spricht: Am Ende wird die Gerechtigkeit siegen.
Am Ende wird sich zeigen, dass allein Gott und nicht die Staatsmacht
den Lauf der Geschichte in seiner Hand behält. Und das werden
nicht nur die Christen begreifen, sondern alle Völker und Nationen.
Singen, auch wenn einem nicht danach zu Mute ist
Und so gilt beides: Singen ist nach Martin Luther und nach der Erfahrung
vieler Christen ein Heilmittel mitten in Depression, Traurigkeit und
Anfechtung. Wie ein Medikament würde er es als Seelenarzt gerne
verschreiben.
Und das andere: Das Singen blickt voraus auf die Zeit nach dem Verstummen.
Wenn auch jetzt die Zeit zum Klagen ist, so wird doch ganz bestimmt
auch wieder die Zeit zum Singen kommen. Johannes hat sie schon gesehen
und er beschreibt sie und malt sie aus, so als wäre sie schon
Wirklichkeit:
Eine Zeit, wo langsam Antworten reifen. Eine Zeit, in der im Nachhinein
manches in einem anderen Licht erscheint. Eine Zeit, wo man genauso
laut loben und danken kann, wie man vorher geklagt hat.
Das Beispiel Paul Gerhardt
Ähnliche Sprachbilder verwendet auch der Liederdichter Paul Gerhardt,
von dem das Lied zu unserer heutigen Kantate stammt. Dieser eine Satz
wird in jeder Strophe wiederholt und fast wie mit einer Fanfare angekündigt:
„Alles Ding währt seine Zeit, Gottes Lieb in Ewigkeit.“
Weinen, Klagen, Schmerz, Trauer, Tränen – sie haben ihre
begrenzte Zeit. Sie haben nicht das letzte Wort. Sie dauern nicht
ewig und es wird wieder eine andere Zeit kommen. Noch deutlicher in
der 9. Strophe:
9. Das weiß ich fürwahr und lasse / mir's nicht aus
dem Sinne gehn: / Christenkreuz hat seine Maße / und muss endlich
stillestehn. / Wenn der Winter ausgeschneiet, / tritt der schöne
Sommer ein; / also wird auch nach der Pein, / wer's erwarten kann,
erfreuet. / Alles Ding währt seine Zeit, / Gottes Lieb in Ewigkeit. |
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