Jesus muss einkehren
„Zachäus,
steig eilend herunter; denn ich muss heute in deinem Hause einkehren.“
Und später dann: „Heute ist diesem Haus Heil widerfahren.“
Das sind für mich die beiden Kernsätze des Evangeliums,
das wir gehört haben.
Viele fromme und rechtschaffene Häuser hätte es damals
in der Stadt Jericho wohl gegeben. Mancher hat vielleicht heimlich
darauf gewartet oder sich gar nach vorne gedrängt, damit Jesus
auf seinem Fußweg nach Jerusalem bei ihm einkehrt und ausruht.
Denn das war nötig und üblich, bevor man sich als Pilger
an den beschwerlichen Aufstieg machte: vom Tal des Jordan ca. 1.000
Höhenmeter hinauf in die Berge nach Jerusalem.
Doch bei Zachäus will er einkehren, gerade bei dem. Bei dem
Außenseiter, den keiner mag: Die Frommen nicht, weil er in
ihren Augen ein Gottloser ist. Die einfachen Leute nicht, weil er
sie beim Zollkassieren schon öfter übervorteilt hat. Und
auch die national Gesinnten nicht, weil er als Zolleinnehmer mit
der römischen Besatzungsmacht zusammenarbeitete.
„Ich muss heute in deinem Hause einkehren.“ sagt Jesus
zu Zachäus. Auf einen Blick durchschaut er die Situation. Er
weiß genau, wen er vor sich hat. Aber er sagt nicht: „Ändere
dich erst, Zachäus. Bring dein Leben in Ordnung. Dann komme
ich nächstes Jahr vielleicht zu dir.“ Nein. „Heute
muss ich bei dir einkehren.“ Er macht ihm keine Vorwürfe.
Er spricht ihn nicht auf seine wunden Punkte an.
Ein Text zur Kirchweihe?
„Ich muss heute in deinem Haus einkehren.“ Und: „Heute
ist diesem Haus Heil widerfahren.“
Das sind wohl die beiden Sätze, deretwegen man diese Geschichte
zum Evangelium des Kirchweihfestes gemacht hat: Die Kirche ist das
Haus, in dem Jesus einkehren will, das Haus, in dem Gott sich finden
lassen will. Auch wenn er sich natürlich nicht nur an dieses
Haus bindet, sondern in jedem Haus zu finden ist, wo zwei oder drei
in seinem Namen versammelt sind. In jedem Haus, wo Menschen ihre
Mahlzeit mit einem Tischgebet beginnen. In jedem Haus, wo jemand
nicht ohne ein Vaterunser zu Bett geht.
Und: Die Kirche ist das Haus, in dem Menschen Heil suchen und Heil
finden: Heil durch ein gutes Wort, das sie tröstet und aufrichtet.
Heil durch die Taufe, in der sich Gott freiwillig und unverdient
an sie bindet. Heil durch das Abendmahl, in dem er freiwillig zu
den Menschen kommt und sagt: Es ist wieder gut.
Ist dieses Haus hier ein Zachäushaus, ein Haus also, wo man
sich über Gottes Erscheinen eigentlich manchmal nur wundern
kann? Ich weiß es nicht. Gott sei Dank, kann keiner dem anderen
ins Herz schauen. Und wenn auch: Wenn Jesus bei dem Obergauner Zachäus
eingekehrt ist, dann wird er wohl nach seinem Versprechen auch die
ganzen Jahre in diesem Haus gewesen sein, und wenn in diesen 47
Jahren mancher kleinere oder größere Gauner da gewesen
sein mag.
Jeder ist eingeladen
Ja, wenn diese Geschichte nicht wäre von diesem Jesus, der
sich wider Erwarten und ohne, dass er es verdient, bei Zachäus
ansagt ... Wenn diese Geschichte nicht wäre, könnten Menschen
seit 47 Jahren überhaupt guten Gewissens diese Kirche besuchen?
Könnten wir heute guten Gewissens kommen, wenn Jesus zu uns
sagen würde: Ändert euch erst, dann komme ich zu euch,
dann bin ich in euren Gottesdienstes gegenwärtig.
Gott sei Dank: es gibt keine Eintrittsvoraussetzungen für ein
Gotteshaus. Da steht kein Türsteher und mustert dich, ob du
herein passt, ob du fromm genug bist, ob du ehrlich bist, ob du
es ernst meinst, ob du dich auskennst, und wie lange du schon nicht
mehr da gewesen bist. Ja, ist nicht gerade das Gegenteil der Fall:
Nicht nur der darf vor Gott treten, der würdig und sündlos
ist, sondern: Hier in diesem Haus kannst du gerade loswerden, was
dich belastet und aussprechen, was nicht in Ordnung ist. Hätte
Jesus sonst gesagt: "Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig
und beladen seid."
47 Jahre Auferstehungskirche sind für mich deswegen 47 Jahre
Treue Gottes zu denen, die immer wieder den Weg hierher gefunden
haben.
Es reicht die Neugier
2 Und siehe, da war ein Mann mit Namen Zachäus, der war
ein Oberer der Zöllner und war reich. 3 Und er begehrte, Jesus
zu sehen, wer er wäre, und konnte es nicht wegen der Menge;
denn er war klein von Gestalt. 4 Und er lief voraus und stieg auf
einen Maulbeerbaum, um ihn zu sehen; denn dort sollte er durchkommen.
Zachäus will Jesus sehen. Wir wissen nicht, warum. War es echtes
Interesse? Die Suche nach dem Heil in seinem unheilen Leben? War
es reine Neugierde? Man hatte ja schon so viel von diesem Jesus
gehört. Was will Zachäus? Weiß er eigentlich selber,
was er will? Weiß er, warum er, der reiche, aber kleine Mann,
da auf dem Baum sitzt und sich zum Gespött macht? Ein Suchender
ist er. So wie viele religiös Suchende in der heutigen Zeit.
Wenn ich Jesus richtig verstehe, dann reicht es als Eintritt für
einen Gottesdienst, wenn jemand neugierig ist, wenn jemand auf der
Suche ist, auch wenn er vielleicht noch gar nicht so genau weiß,
was er sucht.
Jesus entdeckt den Suchenden. Die fromme Menge hält den Atem
an und wartet genüsslich und schadenfroh darauf, wie Jesus
ihn gleich abfahren lassen wird. Und dann diese bewusste Provokation:
„Bei dir will ich heute übernachten.“ Eine Provokation
für die fromme Menge: Galt doch die Tischgemeinschaft damals
neben der sexuellen Gemeinschaft als die engste Beziehung zwischen
Menschen. Seine Gäste hat man sich ganz bewusst und nach strengsten
Maßstäben ausgesucht.
Und am Ende der Geschichte wird Jesus dann sogar noch eins draufsetzen:
„Auch er (Zachäus) ist Abrahams Sohn." Was dem Abraham
versprochen wurde und dem jüdischen Volk gilt, gilt auch ihm.
Er gehört dazu. Das hat ihm schon lange keiner mehr gesagt.
Liebe bricht Krusten auf
Nie hätte Zachäus damit gerechnet, dass Jesus, der Fromme,
der Rabbi, der in die Herzen schauen kann, zu ihm ins Haus kommen
würde. Er wäre auch nie auf die Idee gekommen, ihn von
sich aus einzuladen.
Was passiert da in ihm? Wir können es nur vermuten: Bisher
war er Luft. Und nun redet ihn jemand zum ersten Mal seit langer
Zeit mit seinem Namen an. Zum ersten Mal kommt jemand zu ihm, ohne
ihm Vorwürfe zu machen und ihn auf seine wunden Punkte hinzuweisen,
die er ja selber auch ganz gut kennt.
Zum ersten Mal seit langer Zeit hat jemand ein ehrliches Interesse
an ihm als Person, an ihm als Mensch. Und auch dieser Gauner und
Römerfreund ist ja ein Mensch hinter seine Gaunerschale. Er
hat Frau und Kinder, die er versorgen muss. Und auch er hat ein
Herz. Auch er will geliebt sein.
Das ist eines der schönen und ermutigenden Geheimnisse des
christlichen Glaubens: Wer unerwartet und unverdient Liebe erfährt,
der kann auf einmal auch wieder Liebe erwidern. Sogar der, der dauernd
nur Ablehnung und Hass erfahren hat und dadurch immer verstockter
und hartherziger geworden ist. Liebe und Annahme kann die ältesten
und härtesten Krusten aufbrechen.
Aber wer Gottes Liebe entdeckt, der entdeckt auf einmal auch alle
seine Fehler und kann sich dann nur noch wundern, wie Gott gerade
ihn lieben kann.
Liebe verwandelt
8 Zachäus aber trat vor den Herrn und sprach: Siehe, Herr,
die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen, und wenn ich
jemanden betr¬gen habe, so gebe ich es vierfach zurück.
Hätte Zachäus sich etwa geändert, hätte er neu
Schritte in seinem Leben getan, wenn Jesus sich unter den Baum gestellt
und unter dem Beifall und Grinsen der Menge gerufen hätte:
„Die Leute haben schon Recht, du alter Gauner. Schau, dass
du dich änderst. Vorher hast du keinen Platz in der Gemeinschaft.“
Aber nun, nach dieser überraschenden Erfahrung von Annahme
und Liebe,
kann der an Gütern Reiche, aber an Liebe und Zuwendung Arme,
von seinem Reichtum hergeben, weil er den Reichtum der Liebe erfahren
hat.
Dass damit seine Probleme wohl erst beginnen, sei nur nebenbei gesagt:
Wie wird es am nächsten Tag weitergehen? Wenn er als Zöllner
ehrlich ist, kann er nicht lange überleben. „Ich habe
das Geld aber schon verplant.“ wird seine Frau sagen. „Du
bringst die Preise durcheinander.“ werden seine Kollegen sagen.
Doch ganz egal, was sich nun praktisch tut in seinem Leben, viel
oder wenig, langsame oder schnelle Veränderungen: Es ist etwas
geschehen mit diesem Zachäus, dass er nicht so bleiben kann,
wie er war.
Aber noch einmal: Entscheidend ist die Reihenfolge: Ihm ist Heil
widerfahren, nicht weil er diese Wiedergutmachung leistete. Sondern
das Heil, das ihm mit dem Ruf und mit dem Besuch Jesu begegnete,
hat ihn zum neuen Menschen mit einem neuen Verhalten verwandelt.
Wenn das doch auch in diesem Gotteshaus immer neu geschehen könnte:
Dass Menschen sich ganz persönlich angesprochen fühlen,
Annahme erfahren, Vergebung, Heil, Zuspruch, Aufmerksamkeit - und
dann fähig werden zu neuen Schritten in ihrem Leben.
„Heute muss ich in deinem Haus einkehren.“ Weil Jesus
das sagt, und nicht, weil wir alle so brav sind, ist mir nicht bange
um die Zukunft dieses Hauses und dieser Gemeinde. Heute nicht und
auch in Zukunft.
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