Die
alltäglichen Lasten "Einer trage des
andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi
erfüllen." Wenn Sie diesen Bibelvers
hören, werden Sie wohl erst einmal an den Worten
"Last" und "tragen"
hängenbleiben. Eine jede und ein jeder trägt
irgendwelche Lasten mit sich herum: körperliche
oder seelische, gesundheitliche, berufliche,
familiäre Lasten. Oder Sie denken an die Lasten,
die Sie unweigerlich für andere tragen müssen,
wenn Sie z.B. zu Hause oder im Altenheim jemand
zu betreuen oder zu pflegen haben. Andere denken
vielleicht ganz vordergründig an die Lasten, die
es bereitet hat, dieses Fest und das Gelände
vorzubereiten: Die vielen Hände und Schultern,
die nötig sind, bis alle Buden hergerichtet,
alle Garnituren aufgebaut und die Reste des
vorhergehenden Abends weggeräumt sind.
"Helft einander die Lasten tragen."
Unser alltägliches Leben und auch ein solches
Fest wären nicht möglich, wenn nicht viele
zusammenhelfen und sich die Lasten teilen
würden.
Die Lasten
im Miteinander
"Einer trage
des anderen Last." Was meinte der Apostel
Paulus damals damit, als er seinem Schreiber
diesen Satz diktiert hat? Der Zusammenhang ist
wichtig: Offenbar hat Paulus aus den christlichen
Gemeinden im damaligen Galatien heute
mitten in der Türkei gehört, dass es
beim menschlichen Miteinander Probleme gegeben
hat. Und so fasst er am Ende seines Briefes an
die Galater im Kapitel 6 zusammen: Wenn Ihr Euch
Christen nennt, dann lebt auch so: Helft einer
dem anderen wieder zurecht, wenn er einen Fehler
gemacht hat, weil ja keiner von euch ohne Fehler
ist. So tragt ihr einander die Lasten. Meint
nicht, dass ihr etwas Besonderes wärt. Schaut
auf euer eigenes Tun und kehrt vor der eigenen
Tür. Tut Gutes und lasst euch nicht entmutigen,
wenn es euch nicht gedankt wird.
"Einer trage
des andern Last." Von diesem Zusammenhang
her sind mit den Lasten also erst einmal die
alltäglichen Versuchungen und Fehltritte
gemeint. Tragt und ertragt einander mit euren
Fehlern, Eigenheiten, Launen und Schrulligkeiten,
weil ihr wisst, dass jeder seine hat. Das ist das
Ehrliche an der Bibel: Sie nimmt uns ernst als
eine Gemeinschaft von Sündern. Wer meint, die
christliche Gemeinde, die Kirchengemeinde sei
nichts für ihn, da seien die besseren
versammelt, da passe er nicht hin, hat etwas
missverstanden. Ebenso aber auch eine christliche
Gemeinde, sobald sie auf den Gedanken käme, sie
sei etwas besseres.
Von der
rechten Verteilung der Lasten
"Einer trage
des anderen Last." Das ist also zuerst
einmal eine Frage der inneren Einstellung und
dann erst eine Frage der Tat: So miteinander
umgehen, dass man weiß, dass jeder seine
schwachen Seiten hat. Dass einer auf den anderen
angewiesen ist.
"Einer trage
des anderen Last." Die Lasten des Lebens,
die Lasten, die ein einzelner, die eine
Gemeinschaft, ein Verein, zu tragen hat, sind
offensichtlich ungleich und oft auch ungerecht
verteilt. Einander die Lasten tragen, sich
einander beim Tragen der Lasten zu helfen, heißt
also nichts anderes als: die ungleichen Lasten
auf so viele verschiedene Schultern zu verteilen,
dass niemand überfordet wird.
Die Lasten
entdecken
"Einer trage
des anderen Last." Dazu muss man solche
Lasten erst entdecken. Man entdeckt sie, indem
man einmal von seinen eigenen Lasten absieht und
auf den anderen schaut oder ihn anhört. Ich habe
schon öfter mitbekommen, dass jemand einen Anruf
zum Geburtstag bekommt, begonnen mit einem
herzlichen Gruß. Dann: Wie geht es dir? Und ohne
die Antwort abzuwarten: Ja, wenn du wüsstest,
wie es mir wieder geht. Und dann wird der
Beglückwünschte auf einmal zur Klagemauer.
"Was soll man einem alten Menschen
schenken?" Heißt es öfter. "Er hat ja
alles, was er braucht." Schenkt Zeit. Habt
ein offenes Ohr. Aber stellt in diesem Moment
eure eigenen Lasten einmal ganz in den
Hintergrund.
Jesus, der
Lastenträger
"Einer trage
des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz
Christi erfüllen." Man kann über diesen
Vers nicht reden, ohne über Jesus von Nazareth
zu reden. Das gilt in einem doppelten Sinn:
Lasten mittragen, Lasten abnehmen: genauso hat
Jesus gelebt im Umgang mit denen, denen die
anderen aus dem Weg gegangen sind. Krankheiten
und Leiden hat er sich angehört, angeschaut und
zu Herzen genommen. Wer weiß, wie viele Menschen
damals allein dadurch gesund geworden sind, dass
er ein offenes Ohr für sie hatte und keine
Angst, sie zu berühren.
Und: Wer heute
anderen Lasten abnehmen will, braucht Kraft,
braucht Zeit, braucht Geduld. Die ist nicht
unbedingt von alleine da. Die muss man sich
schenken lassen. Ich bin überzeugt: Gläubige
Menschen sind nicht von Haus aus bessere
Menschen, aber sie sind die besseren
Lastenträger, weil sie wissen, wo sie sich
ihrerseits mit ihrer Last hinwenden können.
Lasten kann nur tragen, wer selber auch wieder
Lasten abladen kann.
Die Lasten
vor 70 Jahren
"Einer trage
des anderen Last." Ob die, die damals vor 70
Jahren hier miteinander angefangen, aufgebaut und
Lasten getragen haben, gerade gute
Gemeindeglieder und fleißige Kirchgänger waren,
wage ich eher zu bezweifeln. Den meisten ist vom
Leben und von der damaligen Gesellschaft nichts
geschenkt worden. Und sie gehörten großenteils
zu einer Bevölkerung, mit der sich auch die
Kirche damals nicht unbedingt abgegeben hat. Aber
sie haben dennoch etwas von dem verstanden und
beherzigt, was Paulus betont: Keiner war etwas
Besseres. Keiner hätte es wagen sollen, etwas
Besseres sein zu wollen. Einer war auf den
anderen angewiesen. Und manches Haus wäre nicht
entstanden, wenn man sich nicht wortwörtlich die
Lasten geteilt hätte. Und so war es auch bei den
Bauphasen, die sich dann nach dem Krieg
angeschlossen haben, wo dann u.a. Kriegsblinde
und Kriegsversehrte ihre Heimat gefunden haben.
... und
heute
"Einer trage
des anderen Last." Wirtschaftliche Not war
damals der Anlass dazu. Wer weiß, wie nötig
solche christlichen Tugenden bald wieder
gebraucht werden? Die Möglichkeiten des
Sozialstaates sind ausgereizt. Eigeninititative
predigen die Politiker nicht zu Unrecht. Trotz
aller Unkenrufe ist mein Vertrauen in die
Menschen groß: Die Tugenden, die vor 40 Jahren
eine Kirchengemeinde und vor 70 Jahren eine
Siedlung haben werden lassen, gibt es noch.
Ich freue mich
über den guten Kirchgang beim Waldfest. Ich
freue mich, dass ich manche sehe, die ich sonst
nicht sehe. Und ich würde sie natürlich gerne
auch sonst öfter sehen. Doch ich hüte mich,
jemanden danach zu beurteilen. Wenn ich Paulus
recht verstehe, steht die Tat im Vordergrund:
dass einer dem anderen, dort wo er es braucht,
die Lasten trägt. Still und unspektakulär und
ohne ein Aufhebens darum zu machen. Da wird
Glaube und Nächstenliebe gelebt, auch von denen,
die sich selbst nicht unbedingt als gläubig
einstufen würden.
Ich schließe mit
Worten aus dem Richtspruch zur zweiten
Baugruppe der Siedlung vom September 1933:
Gottlob, trotz
manchem Für und Wider schau ich von dieser Höhe
nieder,
Und danke Gott, der ließ gelingen, bis heut die
Arbeit uns vollbringen.
So lasst uns Gott recht innig bitten, er mög'
verweilen in unserer Mitten,
bis die ganze Siedlung in kurzer Frist mit vielem
Fleiß vollendet ist.
Mit Krankheit mög' er uns verschonen und unserer
Hände Arbeit lohnen.
Den Siedlern, die hier ziehen ein, mög' er ein
gütger Vater sein." Amen
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