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Die Predigt vom 24. August 2003 (10. Sonntag nach Trinitatis):
»Bitte keine Schadenfreude!«

Kirchenjahr
Informationen zum Kirchenjahr
Der Ort der Predigt im Kirchenjahr
Die Evangelische Kirche beging den 10. Sonntag nach Trinitatis („Israelsonntag“). Sein Thema ist das Verhältnis zwischen Christen und Juden als Volk Gottes. Alternativ-Evangelium und Predigttext dieses Sonntags (s.u.) war die Frage nach dem höchsten Gebot aus Markus 12:
Predigttext
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Der Predigttext
28 Und es trat zu ihm einer von den Schriftgelehrten, der ihnen zugehört hatte, wie sie miteinander stritten. Und als er sah, daß er ihnen gut geantwortet hatte, fragte er ihn: Welches ist das höchste Gebot von allen? 29 Jesus aber antwortete ihm: Das höchste Gebot ist das: »Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, 30 und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften« (5. Mose 6,4.5). 31 Das andre ist dies: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (3. Mose 19,18). Es ist kein anderes Gebot größer als diese. 32 Und der Schriftgelehrte sprach zu ihm: Meister, du hast wahrhaftig recht geredet! Er ist nur einer, und ist kein anderer außer ihm; 33 und ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt und von allen Kräften, und seinen Nächsten lieben wie sich selbst, das ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer. 34 Als Jesus aber sah, daß er verständig antwortete, sprach er zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes. Und niemand wagte mehr, ihn zu fragen.
Predigt
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Die Predigt
Israelis und Palästinenser

Im traditionellen Evangelium für den heutigen Sonntag weint Jesus über Jerusalem: die Menschen erkennen nicht, was zu ihrem Frieden dient. Sie erkennen die Zeichen der Zeit nicht. Was dient in der gegenwärtigen Lage zum Frieden? Wer erkennt die Zeichen der Zeit nicht? Wer will aus unserer Warte antworten, wie Verantwortung und Schuld zwischen Palästinensern und Israelis verteilt ist? Wer sich bewegen müsste, damit sich der andere bewegt. Wo die Henne und wo das Ei ist. Wenn schon die Christen vor Ort ratlos sind, wie wir vorhin gehört haben.

Bitte keine Schadenfreude!

Trotzdem gab es und gibt es auf christlicher Seite immer wieder auch Schadenfreude, vor allem an Stammtischen, wo ja die Klügsten zusammensitzen: "Recht geschieht's ihnen." Und dann kommen alte Vorurteile gegenüber "den Juden". Selbstverständlich kann man und darf man auch von Deutschland her die Politik der derzeitigen israelischen Regierung kritisieren. Doch das ist eine Frage der politischen Einschätzung. Aber jeder Hauch von Schadenfreude ist von der Bibel her undenkbar:

Das Judentum als Wurzel des Christentums

Wir haben in der Epistellesung von der Traurigkeit des Apostels Paulus gehört, dass seine Glaubensbrüder Jesus nicht als den Messias annehmen können. Aber, so betont er: Gott steht weiterhin zu seinem Volk. Und wenn man dann weiterliest, wird er noch deutlicher: Es gibt keinen Grund für christliche Schadenfreude, denn das Judentum ist die Wurzel des Christentums:

17 Wenn aber nun einige von den Zweigen ausgebrochen wurden und du, der du ein wilder Ölzweig warst, in den Ölbaum eingepfropft worden bist und teilbekommen hast an der Wurzel und dem Saft des Ölbaums, 18 so rühme dich nicht gegenüber den Zweigen. Rühmst du dich aber, so sollst du wissen, dass nicht du die Wurzel trägst, sondern die Wurzel trägt dich. (Röm 11,17-18)

Gemeinsame Wurzeln entdecken

Vielleicht ist es diese Gefahr christlicher Schadenfreude gewesen, die die Verantwortlichen bewogen hat, dem gewohnten Evangelium dieses Sonntags noch einen anderen Text zum Predigen an die Seite zu stellen. Sie haben ihn vorhin gehört vom sog. Doppelgebot der Liebe, wo sich Jesus und der Schriftgelehrte so nahe gekommen sind, weil sie sich nicht auf das Trennende, sondern auf das Gemeinsame besonnen haben. "Du bist nicht fern vom Reich Gottes." sagt Jesus zu dem Schriftgelehrten. Und dieses Reich Gottes ist weder jüdisch noch christlich. Es ist weder katholisch noch evangelisch. Die gemeinsamen Wurzeln entdecken, den gemeinsamen Gott anbeten, und nicht irgendeine Schadenfreude oder gar Belehrung aus 3.000 km Entfernung, das ist wohl der rechte Umgang mit dem 10. Sonntag nach Trinitatis, dem sog. Israelsonntag.

Wenn zwei einander zuhören ...

28 Und es trat zu ihm einer von den Schriftgelehrten, der ihnen zugehört hatte, wie sie miteinander stritten. Und als er sah, dass er ihnen gut geantwortet hatte, fragte er ihn: Welches ist das höchste Gebot von allen?

Jesus und die Schriftgelehrten – das war oft genug ein eher frostiges und gespanntes Verhältnis. Wie lernt man am meisten voneinander, wenn man verschiedenen Lagern angehört, verschiedenen Volksgruppen, verschiedenen Religionen, verschiedenen Vereinen ... Israelis und Palästinenser, Katholiken und Protestanten, Serben und Bosnier ...? Einander erst einmal zuhören und dann miteinander ins Gespräch kommen. Wirklich miteinander ins Gespräch kommen. Nicht miteinander reden, um Recht zu behalten oder um dem anderen eins auszuwischen.

Mehrmals kann man in den Evangelien lesen: "Ein Schriftgelehrter stand auf, versuchte ihn und sprach." In Versuchung führen, auf die Probe stellen, aufs Glatteis führen. So ist es hier nicht. Und siehe da: Die beiden kommen ernsthaft miteinander ins Gespräch. Sie kommen sich nahe, bis es dann heißt: "Du bist ganz nah am Reich Gottes."

... bis es in Fleisch und Blut übergeht

29 Jesus aber antwortete ihm: Das höchste Gebot ist das: »Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, 30 und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften« (5. Mose 6,4.5). 31 Das andre ist dies: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (3. Mose 19,18). Es ist kein anderes Gebot größer als diese.

Mit einer entscheidenden, in der damaligen Zeit heiß diskutierten Glaubensfrage kommt der Schriftgelehrte zu Jesus. Was ist unter den Hunderten der Gebote und Verbote das größte Gebot? Gibt es das überhaupt? Oder ist jedes einzelne gleich wichtig, und solange man nur eins davon vergisst und versäumt, ist alles verloren? An das "Höre Israel", auf hebräisch "Schema Israel", aus dem 5. Buch Mose erinnert Jesus. Sozusagen das jüdische Glaubensbekenntnis. Ein frommer Jude trägt es beim Beten in einem Kästchen am Kopf, am Herzen und an der Hand. Es befindet sich in einer kleinen Hülse an jeder jüdischen Eingangstür. Es wird so oft wiederholt, bis es in Fleisch und Blut übergegangen ist. Glaubensbekenntnis und Gebot in einem. Viel kürzer als die Zehn Gebote im Katechismus. Wer dieses eine Gebot, Gott von ganzem Herzen ernst zu nehmen, befolgt, der befolgt damit automatisch auch die einzelnen Gebote.

Eher ungewöhnlich war, dass Jesus diesem einen Gebot noch ein zweites aus dem 3. Buch Mose gleichberechtigt an die Seite stellt: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst." Und so entstand, was wir das Doppelgebot der Liebe nennen.

Dieses Gebot wie ein fleißiger Konfirmand herunterschnurren zu können, ist gut, aber es reicht nicht: "von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften". Das ist mehr. Gott lieben, Gott ernst nehmen, das muss sozusagen vom Kopf aus tiefer rutschen: es nicht nur theoretisch wissen, sondern zu seiner Überzeugung machen, daraus leben, es zu Triebfeder des Tuns werden lassen, und dann nach allen Kräften auch so handeln. Spätestens da muss jede Schadenfreude oder Überheblichkeit einer dem andern gegenüber aufhören: Denn wer könnte dem wirklich gerecht werden?

Auch heute wird geopfert

32 Und der Schriftgelehrte sprach zu ihm: Meister, du hast wahrhaftig recht geredet! Er ist nur einer, und ist kein anderer außer ihm; 33 und ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt und von allen Kräften, und seinen Nächsten lieben wie sich selbst, das ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer.

Solange es in Jerusalem den Tempel gab, bis zu seiner Zerstörung durch die Römer im Jahr 70, dienten die Opfer dazu, Gott etwas Gutes zu tun, ihn zu ehren, ihm etwas zurückzuerstatten von dem Geschenkten. Aber Opfer machen auch möglich, dass man sich vor Gott sozusagen freikauft: Man kann opfern und seine Pflicht tun, ohne mit dem "Herzen, dem Gemüt und allen Kräften" innerlich bei der Sache zu sein.

Es gibt keinen Opferkult mehr im Judentum. Aber wieviele Menschenopfer werden täglich dargebracht um einer vermeintlich guten Sache willen: jüdische Opfer um den gerechten palästinensischen Sache willen, palästinensische Opfer um der guten jüdischen Sache willen. Und wer weiß, wieviele der Täter von Herzen meinen, Gott damit einen Dienst zu tun. Stünde wie bei Jesus das Gebot der Nächstenliebe gleichberechtigt neben dem Gebot der Gottesliebe, dann wäre das alles undenkbar.

Aber, wie gesagt, es steht uns der erhobene Zeigefinger nicht an, weil wir wissen, wie wenig wir selber von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt und mit allen unseren Kräften im Alltag zu Gott stehen. Fangen wir lieber dort an, wo wir selber unsere Rechthaberei und die kleinen Feindschaften pflegen: unter zerstrittenen Nachbarn, bei zerbrochenen Freundschaften, bei der buckligen Verwandtschaft oder in konkurrierenden Vereinen und Gruppen. Der dreieinige Gott schenke uns dazu sein Gelingen. Amen

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Michael Thein • Pfarrer • Kaulbachstraße 2b• 95447 Bayreuth • Tel. 0921-65378 • Fax 03222-2426857

mic.thein@t-online.de www.michael-thein.de