Israelis
und Palästinenser Im traditionellen
Evangelium für den heutigen Sonntag weint Jesus
über Jerusalem: die Menschen erkennen nicht, was
zu ihrem Frieden dient. Sie erkennen die Zeichen
der Zeit nicht. Was dient in der gegenwärtigen
Lage zum Frieden? Wer erkennt die Zeichen der
Zeit nicht? Wer will aus unserer Warte antworten,
wie Verantwortung und Schuld zwischen
Palästinensern und Israelis verteilt ist? Wer
sich bewegen müsste, damit sich der andere
bewegt. Wo die Henne und wo das Ei ist. Wenn
schon die Christen vor Ort ratlos sind, wie wir
vorhin gehört haben.
Bitte
keine Schadenfreude!
Trotzdem gab es
und gibt es auf christlicher Seite immer wieder
auch Schadenfreude, vor allem an Stammtischen, wo
ja die Klügsten zusammensitzen: "Recht
geschieht's ihnen." Und dann kommen alte
Vorurteile gegenüber "den Juden".
Selbstverständlich kann man und darf man auch
von Deutschland her die Politik der derzeitigen
israelischen Regierung kritisieren. Doch das ist
eine Frage der politischen Einschätzung. Aber
jeder Hauch von Schadenfreude ist von der Bibel
her undenkbar:
Das
Judentum als Wurzel des Christentums
Wir haben in der
Epistellesung von der Traurigkeit des Apostels
Paulus gehört, dass seine Glaubensbrüder Jesus
nicht als den Messias annehmen können. Aber, so
betont er: Gott steht weiterhin zu seinem Volk.
Und wenn man dann weiterliest, wird er noch
deutlicher: Es gibt keinen Grund für christliche
Schadenfreude, denn das Judentum ist die Wurzel
des Christentums:
17 Wenn aber
nun einige von den Zweigen ausgebrochen wurden
und du, der du ein wilder Ölzweig warst, in den
Ölbaum eingepfropft worden bist und teilbekommen
hast an der Wurzel und dem Saft des Ölbaums, 18
so rühme dich nicht gegenüber den Zweigen.
Rühmst du dich aber, so sollst du wissen, dass
nicht du die Wurzel trägst, sondern die Wurzel
trägt dich. (Röm 11,17-18)
Gemeinsame
Wurzeln entdecken
Vielleicht ist es
diese Gefahr christlicher Schadenfreude gewesen,
die die Verantwortlichen bewogen hat, dem
gewohnten Evangelium dieses Sonntags noch einen
anderen Text zum Predigen an die Seite zu
stellen. Sie haben ihn vorhin gehört vom sog.
Doppelgebot der Liebe, wo sich Jesus und der
Schriftgelehrte so nahe gekommen sind, weil sie
sich nicht auf das Trennende, sondern auf das
Gemeinsame besonnen haben. "Du bist nicht
fern vom Reich Gottes." sagt Jesus zu dem
Schriftgelehrten. Und dieses Reich Gottes ist
weder jüdisch noch christlich. Es ist weder
katholisch noch evangelisch. Die gemeinsamen
Wurzeln entdecken, den gemeinsamen Gott anbeten,
und nicht irgendeine Schadenfreude oder gar
Belehrung aus 3.000 km Entfernung, das ist wohl
der rechte Umgang mit dem 10. Sonntag nach
Trinitatis, dem sog. Israelsonntag.
Wenn zwei
einander zuhören ...
28 Und es trat
zu ihm einer von den Schriftgelehrten, der ihnen
zugehört hatte, wie sie miteinander stritten.
Und als er sah, dass er ihnen gut geantwortet
hatte, fragte er ihn: Welches ist das höchste
Gebot von allen?
Jesus und die
Schriftgelehrten das war oft genug ein
eher frostiges und gespanntes Verhältnis. Wie
lernt man am meisten voneinander, wenn man
verschiedenen Lagern angehört, verschiedenen
Volksgruppen, verschiedenen Religionen,
verschiedenen Vereinen ... Israelis und
Palästinenser, Katholiken und Protestanten,
Serben und Bosnier ...? Einander erst einmal
zuhören und dann miteinander ins Gespräch
kommen. Wirklich miteinander ins Gespräch
kommen. Nicht miteinander reden, um Recht zu
behalten oder um dem anderen eins auszuwischen.
Mehrmals kann man
in den Evangelien lesen: "Ein
Schriftgelehrter stand auf, versuchte ihn und
sprach." In Versuchung führen, auf die
Probe stellen, aufs Glatteis führen. So ist es
hier nicht. Und siehe da: Die beiden kommen
ernsthaft miteinander ins Gespräch. Sie kommen
sich nahe, bis es dann heißt: "Du bist ganz
nah am Reich Gottes."
... bis es
in Fleisch und Blut übergeht
29 Jesus aber
antwortete ihm: Das höchste Gebot ist das:
»Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der
Herr allein, 30 und du sollst den Herrn, deinen
Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele,
von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften«
(5. Mose 6,4.5). 31 Das andre ist dies: »Du
sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst«
(3. Mose 19,18). Es ist kein anderes Gebot
größer als diese.
Mit einer
entscheidenden, in der damaligen Zeit heiß
diskutierten Glaubensfrage kommt der
Schriftgelehrte zu Jesus. Was ist unter den
Hunderten der Gebote und Verbote das größte
Gebot? Gibt es das überhaupt? Oder ist jedes
einzelne gleich wichtig, und solange man nur eins
davon vergisst und versäumt, ist alles verloren?
An das "Höre Israel", auf hebräisch
"Schema Israel", aus dem 5. Buch Mose
erinnert Jesus. Sozusagen das jüdische
Glaubensbekenntnis. Ein frommer Jude trägt es
beim Beten in einem Kästchen am Kopf, am Herzen
und an der Hand. Es befindet sich in einer
kleinen Hülse an jeder jüdischen Eingangstür.
Es wird so oft wiederholt, bis es in Fleisch und
Blut übergegangen ist. Glaubensbekenntnis und
Gebot in einem. Viel kürzer als die Zehn Gebote
im Katechismus. Wer dieses eine Gebot, Gott von
ganzem Herzen ernst zu nehmen, befolgt, der
befolgt damit automatisch auch die einzelnen
Gebote.
Eher ungewöhnlich
war, dass Jesus diesem einen Gebot noch ein
zweites aus dem 3. Buch Mose gleichberechtigt an
die Seite stellt: "Du sollst deinen
Nächsten lieben wie dich selbst." Und so
entstand, was wir das Doppelgebot der Liebe
nennen.
Dieses Gebot wie
ein fleißiger Konfirmand herunterschnurren zu
können, ist gut, aber es reicht nicht: "von
ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem
Gemüt und von allen deinen Kräften". Das
ist mehr. Gott lieben, Gott ernst nehmen, das
muss sozusagen vom Kopf aus tiefer rutschen: es
nicht nur theoretisch wissen, sondern zu seiner
Überzeugung machen, daraus leben, es zu
Triebfeder des Tuns werden lassen, und dann nach
allen Kräften auch so handeln. Spätestens da
muss jede Schadenfreude oder Überheblichkeit
einer dem andern gegenüber aufhören: Denn wer
könnte dem wirklich gerecht werden?
Auch heute
wird geopfert
32 Und der
Schriftgelehrte sprach zu ihm: Meister, du hast
wahrhaftig recht geredet! Er ist nur einer, und
ist kein anderer außer ihm; 33 und ihn lieben
von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt und von
allen Kräften, und seinen Nächsten lieben wie
sich selbst, das ist mehr als alle Brandopfer und
Schlachtopfer.
Solange es in
Jerusalem den Tempel gab, bis zu seiner
Zerstörung durch die Römer im Jahr 70, dienten
die Opfer dazu, Gott etwas Gutes zu tun, ihn zu
ehren, ihm etwas zurückzuerstatten von dem
Geschenkten. Aber Opfer machen auch möglich,
dass man sich vor Gott sozusagen freikauft: Man
kann opfern und seine Pflicht tun, ohne mit dem
"Herzen, dem Gemüt und allen Kräften"
innerlich bei der Sache zu sein.
Es gibt keinen
Opferkult mehr im Judentum. Aber wieviele
Menschenopfer werden täglich dargebracht um
einer vermeintlich guten Sache willen: jüdische
Opfer um den gerechten palästinensischen Sache
willen, palästinensische Opfer um der guten
jüdischen Sache willen. Und wer weiß, wieviele
der Täter von Herzen meinen, Gott damit einen
Dienst zu tun. Stünde wie bei Jesus das Gebot
der Nächstenliebe gleichberechtigt neben dem
Gebot der Gottesliebe, dann wäre das alles
undenkbar.
Aber, wie gesagt,
es steht uns der erhobene Zeigefinger nicht an,
weil wir wissen, wie wenig wir selber von ganzem
Herzen, von ganzem Gemüt und mit allen unseren
Kräften im Alltag zu Gott stehen. Fangen wir
lieber dort an, wo wir selber unsere Rechthaberei
und die kleinen Feindschaften pflegen: unter
zerstrittenen Nachbarn, bei zerbrochenen
Freundschaften, bei der buckligen Verwandtschaft
oder in konkurrierenden Vereinen und Gruppen. Der
dreieinige Gott schenke uns dazu sein Gelingen.
Amen
|