Viel
Liebe auf einem Fleck
So heißt es im 1. Johannesbrief, Kapitel 4, der Epistel und
dem Predigttext für heute. Was sofort in die Augen und in die
Ohren springt: Ganze 15 mal hören wir das Worte Liebe in insgesamt
nur fünf Versen! Das Thema ist klar.
Aber noch am vergangenen Sonntag hätten wir diese Worte anders
gehört als nach dieser vergangenen Woche. Mit einem leisen
Seufzen hätten es
vielleicht viele Predigthörer gehört: Schon wieder das
Thema "Liebe". Was wird's wohl diesmal Neues geben? Natürlich
sind wir alle dafür. Aber wir wissen auch, wie schwer die Liebe
im Alltag immer wieder fällt.
Und als Prediger hätte ich mich wohl v.a. daran erinnert, dass
ich die althergebrachte Anrede "Liebe Gemeinde" schon
lange nicht mehr verwende. Sie geht einem so schnell über die
Lippen, zu schnell für dieses gewichtige Wort. "Ihr Lieben",
so fängt auch Johannes an. "Ihr Lieben", "Mein
Lieber!". Das kann leicht zur Floskel werden. Ja, es kann auch
ironisch oder gar drohend gemeint sein.
Der „liebe Gott“ und die Geiselnahme
"Gott
ist die Liebe". Wie viele werden das nach den Geschehnissen
im Kaukasus heute ganz anders hören? Natürlich bricht
wieder die uralte, nie erledigte Frage auf, wie man da überhaupt
von einem "lieben Gott" sprechen kann, wenn so viele Unschuldige
und v.a. Kinder umkommen. Wo ist da der liebe Gott? Wie kann er
zulassen, dass Menschen so miteinander umgehen? Und es gibt auch
diesmal keine eindeutige, befriedigende Antwort: in diesem Predigttext
nicht, und auch von mir als Prediger nicht. Keine Antwort außer
der, die der anglikanische Erzbischof gestern in einem Interview
gegeben hat: Gott hat uns Menschen Freiheit geschenkt. Wir sind
keine Marionetten. Wir haben die Freiheit zum Guten, aber auch zum
Bösen. So ernst meint es Gott mit unserer Freiheit, dass er
uns gewähren lässt.
Liebe – ein Hauptwort und ein Tätigkeitswort
Der Predigttext löst alle diese Fragen nicht einfach auf. Aber
vielleicht deutet er da oder dort eine Richtung an:
7 Ihr Lieben, lasst uns einander lieb haben; denn die Liebe
ist von Gott, und wer liebt, der ist von Gott geboren und kennt
Gott. 8 Wer nicht liebt, der kennt Gott nicht; denn Gott ist die
Liebe.
Das sind allgemein gültige Sätze, die man auch heute noch
nachsprechen kann. Aber Johannes scheint damals damit ganz bestimmte
Menschen in
der Gemeinde oder an ihrem Rand im Blick zu haben. In deren Richtung:
Wer nicht liebt, wer nicht tätige Nächstenliebe übt,
der braucht das Wort Gott gar nicht in den Mund zu nehmen. Die Ausleger
streiten sich, wen er da – auch an anderen Stellen seiner
Briefe – im Auge hatte: Es scheint aber besonders Fromme gegeben
zu haben, die so abgehoben waren, die so ganz auf ihre Gotteserkenntnis
aus waren, dass sie den Nächsten unmittelbar um sich herum
vergessen haben.
Keine Gewalt kann sich auf Gott berufen
8 Wer nicht liebt, der kennt Gott nicht; denn Gott ist die Liebe.
Das heißt aber in diesen Tagen ganz eindeutig: Keine Gewalt
kann sich auf Gott berufen. Keine islamische Gewalt kann sich auf
Allah berufen. Da ist sich der Koran in der Mehrheit seiner Ausleger
mit der Bibel einig. Auch in Nordirland und auf dem Balkan kann
sich keine Seite, ob protestantisch, katholisch oder muslimisch,
auf Gott berufen. Und ein Missbrauch Gottes war es auch, wenn im
Kalten Krieg manche im Osten das Reich des Bösen gesehen haben,
gegen das man kämpfen muss; oder wenn Soldaten mit dem Motto
"Gott mit uns" in den Krieg gezogen sind; oder Christen
in den Kreuzzügen mit dem Motto "Deus vult", "Gott
will es so".
Bischof Wolfgang Huber, als Ratspräsident der höchste
deutsche evangelische Repräsentant wird heute in der Bildzeitung
in einem Kommentar zu lesen sein: Er fordert die deutschen Muslime
auf, Terrorismus deutlich zu verurteilen, und erinnert daran, wie
eindeutig die französischen Muslime sich für die Befreiung
der beiden Journalisten im Irak eingesetzt haben.
Man kann sich streiten, ob sich Bischöfe in der Zeitung mit
den vier Buchstaben überhaupt äußern sollten. Aber
sie wird nun mal gelesen. (Die Auflage der "Bild am Sonntag"
beträgt übrigens etwa zwei Millionen. Eine Predigt hören
am Sonntagmorgen ca. 2,5 Millionen Menschen in Deutschland.)
Keine Gewalt kann sich auf Gott berufen. Noch deutlicher im letzten
Vers des Predigttextes:
12 Niemand hat Gott jemals gesehen. Wenn wir uns untereinander
lieben, so bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollkommen.
Handgreifliche Liebe
Mit anderen Worten: Wer oder wie Gott in Wirklichkeit oder eigentlich
ist, ist eine fruchtlose Diskussion. Wichtiger ist die Tat der Liebe.
Oder: Die höchste Theologie ist nicht so sehr Diskutieren und
Philosophieren, sondern praktische Liebe.
Die anderen beiden Texte, die dem heutigen Sonntag die Richtung
geben, sagen es eindeutig. Der Wochenspruch: "Christus
spricht: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern,
das habt ihr mir getan." Und das Evangelium vom barmherzigen
Samariter, wo die beiden frommen Juden achtlos bzw. ängstlich
vorbei gehen, der Samaritaner aber mit der fremden Religion ohne
Angst tut, was zu tun ist.
Liebe ohne Hände geht nicht. Liebe ist nicht so sehr reden,
sondern in den Arm nehmen. Am Freitag wurde im Fernsehen ein Kinderpsychologe
befragt, was die Eltern überhaupt tun können, damit die
überlebenden Kinder ihr Trauma irgendwie verarbeiten können:
Körperliche Nähe, festhalten, da sein, nicht alleine lassen.
Gottes Liebe nimmt Gestalt an
10 Darin besteht die Liebe: nicht, dass wir Gott geliebt haben,
sondern
dass er uns geliebt hat und gesandt seinen Sohn zur Versöhnung
für
unsre Sünden.
Auch Gott hat sozusagen nicht einfach nur mit Worten oder platonisch
oder theoretisch die Menschen geliebt. Gottes Liebe war nicht nur
Gefühl oder Gedanke. Sondern seine Liebe hat Gestalt angenommen.
Sie war ganz praktisch. In Jesus ist Gott nicht in seinem Himmel
geblieben, sondern den Menschen ein Mensch geworden.
Den Menschen ein Mensch werden, so hat dann auch Jesus gelebt. Und
wenn wir Auskunft geben wollen, wer oder wie Gott ist, dann können
wir
es nur an Jesus ablesen. Wie er mit den körperlich und seelisch
Kranken umgegangen ist. Wie er mit denen am Rande der Gesellschaft
umgegangen ist, mit denen die anderen nichts zu tun haben wollten,
und vor denen sie sich geekelt haben.
Dem Menschen ein Mensch werden
Den
Menschen ein Mensch werden. Auch wir können Liebe nicht anders
buchstabieren. Deswegen das Fazit des Johannes:
11 Ihr Lieben, hat uns Gott so geliebt, so sollen wir uns auch
untereinander lieben.
Überraschend ist der Knick in der Logik. Es ist wichtig, das
herauszuhören: Eigentlich wäre die logische Folgerung:
Wenn Gott uns so grenzenlos geliebt hat, dann sollen wir auch ihn
lieben. Nein, Johannes sagt: Wenn Gott uns so geliebt hat, dann
sollen wir uns untereinander lieben. Logisch heißt das nichts
anderes als: Indem wir untereinander Liebe üben, lieben wir
Gott. Er braucht sozusagen unsere Liebe nicht so notwendig wie sie
unser Nachbar braucht.
Liebe bedeutet „Ich sehe dich“
Und wer ist nun unser Nachbar und was braucht er? Darauf antwortet
Jesus im Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Dein Nächster
ist immer der, der dich gerade in diesem Moment dringend braucht.
Du brauchts ihn eigentlich nicht suchen. Du stolperst über
ihn, wenn du die Augen auf machst.
Von einem Bibelübersetzer wird erzählt: In der Eingeborenensprache,
in die er die Bibel übersetzen sollte, gab es keinen entsprechenden
Begriff für das Wort Liebe. Liebe ist ein sog. abstrakter Begriff.
Und solche abstrakten Begriffe kannte die einfache und handfeste
Sprache nicht. Da habe der Übersetzer ganz einfach Liebende
beobachtet und wie sie einander ihre Liebe gestehen. Und sie hätten
in ihrer Sprache gesagt: "Ich sehe dich."
Liebe ganz praktisch: Wenn wir die Augen aufmachen und den anderen
sehen. Wirklich hinsehen. Wirklich wahrnehmen. Ich glaube, dann
werden wir wie der barmherzige Samariter immer sehen, was zu tun
ist. Aber es dann wirklich tun, das ist und bleibt immer schwer.
Zugegeben. Deswegen:
Nimm Gottes Liebe an! Du brauchst dich nicht allein zu mühn,
denn seine Liebe kann in deinem Leben Kreise ziehn.
Und füllt sie erst dein Leben und setzt sie dich in Brand,
gehst du hinaus, teilst Liebe aus, denn Gott füllt dir die
Hand.
Amen |