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Die Predigt |
Jesus und seine
Familie
Wer könnte das Verhalten von Jesu Familie nicht ein wenig verstehen?
Unmöglich, ja anstößig benimmt er sich, zumal für
die orientalisch Welt, wo die Sippe alles und der Einzelne nichts
ist. Ich versuche, ihn mit den Augen seiner Familie zu sehen: Ein
Rumtreiber war er. Ohne festen Wohnsitz, so würde man heute sagen.
Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Das Sprichwort kommt aus
dem Alten Testament. Jesus hat nichts gearbeitet. Er zieht durch die
Gegend und hält noch dazu Menschen von ihrer Arbeit ab. Fischer
ruft er weg von ihren Booten und Netzen. Sie lassen alles stehen und
liegen, sogar ihre Familie, und laufen ihm nach. Seine schönen
Freunde sind ihm wichtiger. Das 4. Gebot scheint ihn nicht zu interessieren:
„Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren.“ Er stielt
sich aus der Verantwortung, die er als der Älteste der Kinder
für die Familie und die Eltern hat. Und was er in der Öffentlichkeit
für ein Bild abgibt: Mit fragwürdigen Leuten gibt er sich
ab, mit Betrügern, mit Frauen von zweifelhaftem Ruf, mit Aussätzigen,
von denen man sich fern hielt. Die Angesehenen und Anständigen
seiner Zeit aber provoziert er. Und all das wirft nicht zuletzt ein
schlechtes Licht auf die Familie, denn man kennt ihn ja:
3 Ist er nicht der Zimmermann, Marias Sohn, und der Bruder des
Jakobus und Joses und Judas und Simon? Sind nicht auch seine Schwestern
hier bei uns? Und sie ärgerten sich an ihm. (Mk 6,3)
Jesus, das „schwarze Schaf“ der Familie. Er bringt einen
in schlechten Ruf. Ein Verrückter, den man nach Hause holen muss.
Jesus und sein Auftrag
Eine sehr emotionale Geschichte für Bibelleser und Predigthörer.
Sonst ist Jesus ja immer der Gute, die Lichtgestalt. Aber hier? Warum
muss er so hart sein? Mancher ältere Mensch fühlt sich vielleicht
an die eigenen Kinder erinnert: „Die könnten sich auch
ein wenig mehr um mich kümmern. Sie könnten mich öfter
einmal besuchen kommen. Sie könnten mal fragen: Mutter, brauchst
du nichts? Aber nein, ihre Freunde und ihre Hobbys sind ihnen wichtiger.“
Es muss Jesus also damals um etwas unendlich Wichtiges gegangen sein,
wenn er sich so anstößig verhielt. Und so war es auch:
Es ging ihm um Gott, um seine Sendung, seinen Auftrag. Es ging ihm
um die Menschen am Rande der Gesellschaft, die durch die Begegnung
mit ihm auf einmal wieder etwas mit Gott anfangen konnten. Die Abgeschriebenen,
denen er die Tür in die Gemeinschaft hinein wieder öffnete.
Die sich an ihn hängen wie an den letzten Strohhalm, die ihn
in jenem Haus so bedrängen, dass er mit seinen Jüngern nicht
einmal mehr zum Essen kommt. Als die Familie ihn rufen lässt,
richten sie ihre Augen auf ihn mit der stillen Frage: Willst du uns
jetzt im Stich lassen. Vor die schwere Entscheidung gestellt, ob die
alten Bindungen der Familie oder die neuen Bindungen aus seinem Auftrag
heraus wichtiger sind, entscheidet er sich für das letztere.
Eine neue Familie durch den Glauben
So haben es damals auch die ersten Christen erfahren, für die
die Evangelien zur Lehre und zum Trost aufgeschrieben wurden: Sie
mussten sich um ihres Glaubens an Jesus willen aus allen Bindungen
lösen, Haus, Hof und Familie zurücklassen. Sie mussten sich
verstecken, weil sie in den Augen der anderen schwarze Schafe und
Umstürzler waren, die man bekämpfen musste.
Ihnen machte wohl diese Erzählung von Jesus Mut. Sie haben gemerkt:
Auch ihm ist es so gegangen. Und noch eines haben sie gemerkt: Wer
die alten Bindungen hinter sich lässt, die einen von Gott abhalten,
der fällt nicht ins Leere, sondern der findet neue Freunde, er
findet Schwestern und Brüder, eine neue Familie.
Ähnliches erleben vielleicht viele von den Jugendlichen, die
sich zur Stunde zu Hunderttausenden beim Weltjugendtag versammeln.
Wie viele Strapazen mögen sie auf sich genommen haben? Welche
weiten Wege mögen sie hinter sich haben und wie viel Geld daran
gegeben? Vielleicht hat mancher gesagt, bevor sie fortgefahren sind:
Ihr seid verrückt! Doch die Gemeinschaft, die sie über die
Sprachgrenzen und Nationen hinweg erleben, die werden sie lebenslang
nicht vergessen. Das gemeinsame Abendmahl mit wildfremden anderen,
die der gemeinsamen Glaube zusammengeführt hat.
Müssten wir viel radikaler glauben?
Heißt das nun für uns: Eigentlich müssten wir auch
viel radikaler und kompromissloser sein? Für den Glauben anderes
stehen und liegen lassen? Für ein bisschen verrückt gehalten
werden?
Ja und nein. Jesus hat auch damals nicht von jedem, dem er begegnete,
gefordert, alles zurückzulassen und ihm zu folgen. Es waren immer
Einzelfälle. Aber es gab sie. Und seit damals haben sich auch
immer wieder Menschen so von Gott angesprochen gefühlt, dass
sie alles hinter sich gelassen haben:
Ich denke an Franziskus von Assisi, der ein reicher Kaufmannssohn
war und das schöne Leben liebte, und der dann den wahren Sinn
seines Lebens in der Armut und als Mönch fand.
Ich denke an Martin Luther, der gegen den Willen seines Vaters ins
Kloster ging und der deswegen sehr mit sich zu kämpfen hatte,
ob dieser Entschluss gegen das 4. Gebot wirklich richtig war.
Ich denke an Albert Schweitzer, der seine gesicherte Existenz als
Professor der Theologie und als begnadeter Orgelspieler aufgab, um
Medizin zu studieren und in den Urwald zu gehen.
Wo braucht mich Gott?
Das gibt es auch heute noch, dass Menschen erst dann den Sinn ihres
Lebens finden, wenn sie loslassen und das Bisherige aufgeben. Das
gibt es, dass Gott mit bestimmten Menschen etwas Besonderes vor hat.
Und niemand unter uns kommt um diese Gewissensfrage herum: Was will
Gott speziell von mir? Wo braucht er mich:
Da, wo ich gerade bin? Hier? Oder woanders? Vielleicht gerade in meiner
Familie? Bei meinen Kindern? Meinen Enkeln? Meinen alten Eltern?
Oder im Beruf? In der Kirchengemeinde? Bei den Jugendlichen des Sportvereins?
Beim kranken Nachbarn?
Oder soll ich kompromisslos für die Natur da sein? Oder für
Minderheiten eintreten? Oder gegen den Extremismus wie gestern in
Wunsiedel?
Braucht er mich gar in der Mission? In der Entwicklungshilfe?
Und wenn sich das Leben wandelt. Wenn die Kinder aus dem Haus sind.
Wenn die Berufstätigkeit zu Ende geht. Wenn die Kraft weniger
wird: Wo braucht er mich jetzt?
Wer ist mein Nächster?
Seiner Sendung, seiner Berufung, dem Ziel seines Lebens hat Jesus
alles untergeordnet. Deswegen geht er so scharf mit seiner Mutter
und seinen Geschwistern um, nicht weil er sich aus der Verantwortung
stehlen würde, sondern weil sie ihn zurückholen und zum
Schweigen bringen wollen. Damit war der Grenzfall erreicht, wo sogar
das 4. Gebot und die Achtung vor der Mutter nicht mehr so wichtig
waren.
Wo braucht mich Gott? Wozu bin ich da? Wenn einer diesen Platz entdeckt,
darf er vielleicht auch manchmal ein wenig kompromisslos sein. Darf
er ein wenig verrückt sein. Kann er sich auch einmal ein wenig
Spott anhören und Kopfschütteln ernten.
„Wer ist mein Nächster?“ So fragt das Gleichnis vom
barmherzigen Samariter. Wer ist der, der meine ungeteilte Aufmerksamkeit
braucht? Nicht der, den du dir selber aussuchst, sagt Jesus, sondern
der, der auf einmal vor deinen Füßen liegt, den ich dir
in deinen Weg lege. Ein Fremder vielleicht.
„Wer ist mein Nächster?“ Die Erzählung von Jesus
lehrt, dass nicht unbedingt immer die Nächsten die Nächsten
sein müssen: also die Familienmitglieder.
„Herr, gib du uns Augen, die den Nachbarn sehn, Ohren, die
ihn hören und ihn auch verstehn.“ (Evangelisches Gesangbuch
Nr. 649) Amen |
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