Die
kürzeste Weihnachtsgeschichte
Wenn wir „Weihnachtsgeschichte“ hören, dann denken
wir zuerst an die des Lukas „Es begab sich aber zu der Zeit
...“. Was Weihnachten, was Menschwerdung Gottes bedeutet,
ist in der Bibel aber auch ganz anders zu lesen.
Die kürzeste „Weihnachtsgeschichte“ finden wir
beim vierten Evangelisten, beim Evangelisten Johannes: „Das
Wort ward Fleisch und wohnte unter uns.“ Punkt. Keine Maria,
kein Josef, kein Ochs, kein Esel, keine Hirten, keine Engel. Nichts,
was man im Krippenspiel spielen könnte. Nichts, was man in
eine Krippe hinein stellen könnte. ...
„Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns.“ Ein Weihnachtsgeschichte
für Erwachsene sozusagen. Nach der Heiligen Nacht mit der altbekannten
Geschichte aus dem Lukasevangelium eine Weihnachtsgeschichte für
die ausgeschlafenen Gottesdienstbesucher. Für die, die die
bereit sind, über das Altbekannte hinaus nachzudenken. Bereit
für andere, unbequeme Weihnachtsgedanken, bereit für neues
Denken.
Geist wurde Materie
„Das Wort ward Fleisch.“ „Das Wort“: Der,
der am Anfang von allem steht. Der Ewige, der schon da war vor aller
Zeit und Welt. Reiner Geist, materielos. Unnahbar, undenkbar, höher
als alle menschliche Vernunft.
„Das Wort ward Fleisch.“ Dieser Gott wurde ein Mensch.
Der Schöpfer wurde zum Geschöpf. Geist wurde Materie.
Der Ewige unterwarf sich Zeit und Raum. Der Unnahbare wurde ganz
nah. Der Unsichtbare ließ sich sehen. Der Ungreifbare ließ
sich greifen.
„Das Wort ward Fleisch.“ Gott wurde ein Mensch, mit
Haut und Haaren, nackt und bloß. Wirklich ein Mensch, nicht
nur scheinbar, wie die Klugen zur Zeit des Evangelisten Johannes
meinten. Wirklich ein Mensch, was z.B. die anderen beiden großen
Religionen Judentum und Islam nicht nachsprechen können und
es für eine Gotteslästerung halten.
Jesus, das wahre Bild Gottes
In Jesus wurde er ein Mensch. Das heißt: So wie Jesus war,
so haben wir uns Gott vorzustellen. „Wer mich sieht, der sieht
den Vater.“ so sagt Jesus im Johannesevangelium (Joh 14,9).
Oder: „Ich und der Vater sind eins.“ (Joh 10,30)
Und in gleicher Weise redet auch Johannes der Täufer, der Vorläufer
Jesu, von Jesus und Gott. Worte aus dem 3. Kapitel des Johannesevangeliums.
Mit „der von oben kommt“ ist Jesus gemeint. Mit „der
von der Erde ist“ ist er, Johannes der Täufer, überhaupt
wir Menschen gemeint:
31 Der von oben her kommt, ist über allen. Wer von der
Erde ist, der ist von der Erde und redet von der Erde. Der vom Himmel
kommt, der ist über allen 32 und bezeugt, was er gesehen und
gehört hat; und sein Zeugnis nimmt niemand an. 33 Wer es aber
annimmt, der besiegelt, dass Gott wahrhaftig ist. 34 Denn der, den
Gott gesandt hat, redet Gottes Worte; denn Gott gibt den Geist ohne
Maß. 35 Der Vater hat den Sohn lieb und hat ihm alles in seine
Hand gegeben. 36 Wer an den Sohn glaubt, der hat das ewige Leben.
Wer aber dem Sohn nicht gehorsam ist, der wird das Leben nicht sehen,
[sondern der Zorn Gottes bleibt über ihm.]
Johannes der Täufers musste sich damals den Erwartungen und
Fragen der Menschen stellen: Bist du der, auf den wir warten? Erfüllen
sich in dir die Verheißungen? Kannst du unsere Sehnsüchte
stillen?
Nein, sagt Johannes, ich bin nur von der Erde, ich bin von unten.
Meine Weisheit, meine Worte und mein Auftrag sind irdisch, sind
begrenzt.
Gott in Jesus
Jesus ist der, der von oben her kommt. Von oben her, von Gott her,
vom Himmel her. Aus einer anderen Wirklichkeit, aus einer höheren
Warte.
Johannes: Wer von der Erde ist, der ist von der Erde und redet
von der Erde. Der vom Himmel kommt, der ist über allen 32 und
bezeugt, was er gesehen und gehört hat.
Ich habe zu euch von Gott geredet, sagt Johannes, wie wir alle ihn
aus den alten Schriften kennen. Jesus aber redet von Gott aus eigener
Anschauung. Er kam von Gott. Er ist wie der Vater.
Gott hat ihn gesandt. Er redet in ihm. Wenn Jesus redet, dann sind
es Gottes Worte. In vollem Maße hat Jesus Gottes Geist. Die
Propheten, die früher von Gott und in seinem Namen redeten,
die hatten ihn nur beschränkt und in verschiedenem Maß.
So ist er der wahre und einzig zuverlässige Zeuge. Wenn drei
Zeugen von außen dasselbe sehen, dann sehen sie es doch jeder
anders. Wenn die Propheten Gott bezeugt haben, dann haben sie es
begrenzt und in einer konkreten geschichtlichen Situation getan.
Doch Jesus sieht Gott sozusagen nicht von außen, sondern von
innen. Alles hat ihm Gott in seine Hand gegeben. Er vertritt ihn
vollmächtig.
Johannes: 34 Denn der, den Gott gesandt hat, redet Gottes Worte;
denn Gott gibt den Geist ohne Maß. 35 Der Vater hat den Sohn
lieb und hat ihm alles in seine Hand gegeben.
Weihnachten zeigt, wie Gott verstanden werden will. Jesus zeigt,
wie Gott gesehen werden will. Wer an ihn glaubt, wer sich nicht
daran stößt, dass Gott so klein und armselig und menschlich
ist, der hat das Leben.
Johannes: 36 Wer an den Sohn glaubt, der hat das ewige Leben.
Wer aber dem Sohn nicht gehorsam ist, der wird das Leben nicht sehen.
Jesus, das authentische Bild Gottes
Der Evangelist Johannes trifft eine Unterscheidung: Er unterscheidet
zwischen menschlichem, begrenztem Reden von Gott und zwischen dem
wahren, dem offenbartem Bild Gottes in Jesus. Wenn wir von Gott
reden, dann reden wir, wie es hier heißt, als welche, die
von der Erde sind und von der Erde reden, also: Wir denken und reden
menschlich, irdisch, begrenzt von Gott. Oft genug legen wir unsere
allzu menschlichen Wünsche und Vorstellungen in ihn hinein.
In Jesus aber, der von oben kam, von Gott kam, von der Quelle kam,
hat Gott gezeigt, wie er verstanden werden will. In Jesus wird sozusagen
authentisch geredet.
Wenn wir das ganz ernst nehmen, wenn wir bereit sind, diese Gedanken
weiterzudenken, hat das weitreichende Folgen dafür, wie wir
uns Gott vorstellen sollen. Folgen, die wir, weil wir eben Menschen
sind, nur vorsichtig, nur fragend formulieren können:
Gott in Jesus: schwach und verletzlich
Menschlich gedacht ist Gott allmächtig und groß und gewaltig.
Von Weihnachten her ist Gott nicht groß, sondern klein. Von
Weihnachten her ist Gott nicht gewaltig, sondern schwach. Von Weihnachten
her ist Gott nicht allmächtig, sondern verletzlich, verletzlich
und zerbrechlich wie ein Kind. Verletzlich wie eines der vielen
Kinder, die in den vergangenen Monaten von ihren Eltern vernachlässigt
oder gar getötet worden sind. Gott gibt sich in die Hände
der Menschen. Er duldet es, dass Menschen ihre Macht missbrauchen
und: – das bleibt unsere größte Anfechtung –
er greift nicht ein.
Warum hat er den Kindermord in Bethlehem zugelassen? Warum lässt
er Kindermorde und Vernachlässigung heute zu? Warum bremst
er solche Eltern nicht? Warum öffnet er nicht den Nachbarn
die Augen?
Gott hält sich nicht heraus ...
Wenn wir diesen Gedanken, dass in dem ohnmächtigen und bedrohten
Kind in der Krippe ganz Gott ist, dann landen wir unweigerlich bei
der Frage: Hat Gott sich selbst Grenzen gesetzt? Will oder kann
er auch heute nicht mit Gewalt dreinschlagen und die Probleme der
Welt mit einem Federstrich oder mit einem Blitzschlag oder einem
Verwaltungsakt lösen? Müssen wir uns vom menschlichen
Gedanken der Allmacht Gottes lösen oder gar ganz verabschieden?
Wir geraten damit an eine gedankliche Mauer, an der es nicht weitergeht.
Auf jeden Fall gilt aber: Weihnachten, Menschwerdung bedeutet, Gott
bleibt nicht im Himmel, Gott hält sich nicht heraus aus der
Erde. Er drückt sich nicht um Leid und Schwachheit. Ja, am
Ende drückt er sich nicht einmal um die Verurteilung durch
die Menschen und um das Kreuz.
...
also halte auch du dich nicht heraus
Noch einmal abschließend Johannes: 36 Wer an den Sohn
glaubt, der hat das ewige Leben. Wer aber dem Sohn nicht gehorsam
ist, der wird das Leben nicht sehen.
Ich kann das nur so verstehen: Wir verscherzen das Leben, wenn wir
nicht im Sinne von Weihnachten ganz Mensch werden, wenn wir meinen,
wir könnten uns heraushalten.
Wenn Gott sich nicht fein heraushält, dann sollen auch wir
es nicht tun. Wenn Gott sich nicht um Leiden und Schwachheit drückt,
dann sollen auch wir es nicht tun.
Wenn Gott bereit ist, den Kopf hinzuhalten, dann sollen auch wir
es tun. Wenn Gott sich nicht zu schade ist, sich die Hände
schmutzig zu machen, dann sollen auch wir uns nicht zu schade dafür
sein.
Nicht fragen: Gott, warum greifst du nicht ein? Sondern selbst eingreifen.
Wo? Das kann ich nicht pauschal beantworten. Wo in unserer Nachbarschaft,
was ich nicht zu glauben wage, vielleicht Kinder vernachlässigt
und misshandelt werden. ...
Wo das Tabu Alkohol angesprochen werden müsste. ...
...
Weihnachten: Einander zum Menschen werden, wie Gott es getan hat.
Dazu helfe uns Gott! Amen
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