Der
Herr ist mein Hirte
"Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln." Das
ist wohl eines der bekanntesten Bibelworte. Und der ganze Psalm
23 vom guten Hirten ist wohl das biblische Stück, das als Gebet
am häufigsten auswendig gelernt wurde. Sie, die Goldenen und
Silbernen Konfirmanden haben es vermutlich damals auch gelernt.
Und viele Generationen vor Ihnen haben das getan. Und auch heute
noch lernen Konfirmanden diese Worte. Gott, mein Hirte: Er führt
mich auf dem rechten Weg. Er führte mich zum frischen Wasser.
In finsteren Tälern ist er an meiner Seite. Diese Bilder sprechen
offenbar an. Sie geben Menschen Mut.
Geführt werden wie Schafe?
Und doch ist es verwunderlich, dass dieser Psalm vom guten Hirten
so beliebt ist, wenn man einmal etwas näher hinschaut: Gott
ist mein Hirte: Bin ich dann sein Schaf? Ein dummes Schaf gar? Ein
Schaf unter vielen?
Gott ist mein Hirte: Nicht alle Menschen wollen geführt werden.
Geführt wie die Schafe, die keinen Schritt allein gehen können.
Mit Führern haben die Deutschen schlechte Erfahrungen gemacht.
Und: Ist das Bild noch aktuell? Wann sieht man noch einen Hirten
heutzutage? Wer weiß denn, was ein Hirte, ein Schäfer
zu tun hat? Auf den typischen Darstellungen sieht das so idyllisch
aus, so friedlich. Aber genau das war nicht gemeint, als man im
Alten Testament Gott mit
einem Hirten verglichen hat und im Neuen Testament Jesus:
Hirten damals
Ein Schaf- und Ziegenhirte in Israel hatte einen harten Job, um
den sich niemand gerissen hat. Dauernd in der heißen Sonne
unterwegs. Auf
der Suche nach jedem grünen Fleckchen. Meilenweit bis zur nächsten
Wasserstelle. Steinige und steile Wege im Gebirge. Wilde Tiere bis
hin zu Löwen. Und dann noch die große Verantwortung,
dass die meisten Tiere gar nicht ihm gehörten, sondern ihm
anvertraut waren. Kein Abenteurer, kein Faulenzer, sondern einer,
auf den man sich durch und durch verlassen konnte.
Ein weiterer Text über diesen guten Hirten, einer, der nicht
so bekannt ist, ist die Epistel des heutigen Hirtensonntags. Im
1. Petrusbrief wird Jesus mit einem Hirten verglichen. Und wieder
in aller Deutlichkeit: Jesus ist Hirte, ist glaubwürdige Leitfigur
deswegen, weil er den Ernst des Lebens kennt. Er ist Leitfigur,
weil er nicht wie andere Führer seine Leute vorausschickt,
sondern selber den Weg vorausgeht. So heißt es dort in Erinnerung
an Passion und Ostern:
21 Christus hat für euch gelitten und euch ein Vorbild
hinterlassen, dass ihr sollt nachfolgen seinen Fußtapfen;
22 er, der keine Sünde getan hat und in dessen Mund sich kein
Betrug fand; 23 der nicht widerschmähte, als er geschmäht
wurde, nicht drohte, als er litt, er stellte es aber dem anheim,
der gerecht richtet; 24 der unsre Sünde selbst hinaufgetragen
hat an seinem Leibe auf das Holz, damit wir, der Sünde abgestorben,
der Gerechtigkeit leben. Durch seine Wunden seid ihr heil geworden.
25 Denn ihr wart wie die irrenden Schafe; aber ihr seid nun bekehrt
zu dem Hirten und Bischof eurer Seelen.
Gute und schlechte Führer
Hirte und Bischof. Wie passt beides zusammen? Wenn man "Bischof"
hört, denkt man zuerst an die katholischen Bischöfe. Und
man denkt nicht immer nur an Gutes. Von der Grundbedeutung des Wortes
her war ein Bischof damals vor 2.000 Jahren einer, der Verantwortung
hatte und wahrnahm für Gemeinden und Gemeindeleiter. Einer,
der sich um die kümmerte, die ihm anvertraut waren.
Noch einmal zurück zum Anfang: Wer will schon gerne ein Schaf
sein? Wer will schon gerne dauernd gezeigt kriegen, wo es langgeht?
Wer will wieder einen Führer? Aber dennoch: Einer, der Zeit
für einen hätte. Einer, der einem zuhört. Einer,
der sich um einen kümmert. Einer, der einem einen Rat gibt,
wenn man sich zwischen verschiedenen Wegen entscheiden muss. Wäre
so einer nicht trotzdem gut? Ein Führer im guten Sinn. Ein
Führer, der sich nicht als Ver-führer entpuppt.
Auf der Suche nach Orientierung
"Denn ihr wart wie die irrenden Schafe." Wer
wäre nicht manchmal wie ein Schaf, das sich verirrt hat: kopflos,
ratlos, durcheinander, ohne Ziel, ohne Richtung, ohne Perspektive.
Immer komplizierter und unüberschaubarer wird die Welt.
Wenn es Euch so oder ähnlich geht, hin und wieder wenigstens,
und wenn ihr dann Orientierung, Leitung und Wegweisung sucht, dann
- so sagt Petrus in seinem Brief - dann hätte ich was für
euch. Ich hätte einen, auf den man sich verlassen kann und
der vor allem glaubwürdig ist.
Und dann erzählt er von Jesus von Nazareth. Und er beschreibt
ihn als einen, der den Weg gezeigt hat. Ja noch mehr: Er hat diesen
Weg nicht nur gezeigt wie ein Wegweiser, der stehen bleibt und die
Richtung angibt, sondern er ist den Weg vorausgegangen. Seinen Fußtapfen,
seinen Spuren, seinem Vorbild könnt ihr nachgehen.
Christus hat für euch gelitten und euch ein Vorbild hinterlassen,
dass
ihr sollt nachfolgen seinen Fußtapfen.
Wir brauchen Vorbilder
Vorbilder brauchen wir. Ohne Vorbilder geht es nicht. Ohne Vorbilder
gibt es keine Erziehung. Und Kinder sehen genau hin. So genau, dass
dann mancher später in seinen Kindern seine eigenen guten und
weniger guten Eigenschaften wiederentdecken kann.
Was das menschliche Wesen angeht, ändert sich die Welt ja gar
nicht sehr: Sie als Konfirmanden damals hatten vermutlich dieselben
Probleme mit der Autorität wie heute. Mit der Autorität
von Eltern, Pfarrern und Lehrern. Gegen Führer sind wir allergisch.
Und vor allem gegen solche, die einen Weg zeigen, aber ihn nicht
selber gehen.
Jesus: Ein Verlierer als Vorbild
Vorbilder aber, Idole, die gab es damals wie heute. Menschen, für
die man schwärmt, an denen man sich ausrichtet. Und nun macht
Petrus einen Leidenden zum Vorbild. Einen, der auf den ersten Blick
mit seiner Aufgabe gescheitert ist, der sein Ziel nicht erreichte,
einen "Loser", so würden manche heute neudeutsch
sagen.
Aber doch gefällt mir dieser angefochtene und verlassene Jesus
als Vorbild besser als manches Idol der heutigen Zeit, denn er weiß
etwas vom richtigen Leben. Die Welt der Sportidole, der Filmidole
und der Kaiser- und Königshöfe ist nicht die richtige
Welt. Es ist eine Scheinwelt der Sieger, der Reichen, der Erfolgreichen.
Wir sind aber nicht dauernd Sieger. Wir sind nicht dauernd gesund
und glücklich. Unser Leben ist Gesundheit und Krankheit, Freude
und Niedergeschlagenheit, Gewinnen und Verlieren, Erfolg und Misserfolg.
Einer, der auch die dunklen Seiten des Lebens kennt, als Vorbild.
Und das andere lässt auch aufhorchen: Einer, der sich ohne
unsaubere Mittel durchsetzt:
Er, der keine Sünde getan hat und in dessen Mund sich kein
Betrug fand; der nicht widerschmähte, als er geschmäht
wurde, nicht drohte, als er litt.
Nicht betrügen, nicht schmähen, nicht drohen, sich nicht
mit Gewalt durchsetzen wollen. Wandelt sich nicht auch in der Gesellschaft
langsam etwas? Setzt sich nicht langsam die Erkenntnis durch, dass
die kleinen und großen Betrügereien aufhören müssen,
wenn wir wirtschaftlich auf die Beine kommen wollen. Sicher, ein
großer Wirtschaftbetrüger oder ein begehrlicher Politiker
wiegen so viel wie tausend kleine Steuersünder oder Schwarzarbeiter.
Aber Betrug bleibt Betrug. Selbstbedienung bleibt Selbstbedienung.
Ehrlich sein, geradlinig sein muss wieder "in" werden,
und wenn man wie Jesus damit vielleicht von manchen ausgelacht wird.
Aber wer damit nicht selber im Kleinen anfängt, verliert das
Recht, über Politik oder Wirtschaft zu schimpfen.
Jesusgemäß leben
Der nicht widerschmähte, als er geschmäht wurde, nicht
drohte, als er
litt.
Das ist eine Erinnerung an die Passion Jesu, an seine Gefangennahme,
sein Verhör, seine Folterung. Wenn das doch mehr könnten:
Das Böse nicht mit Bösem beantworten. Einen nervenden
Nachbarn trotzdem immer wieder freundlich anlächeln. Den Arbeitskollegen
nicht als Arbeitsplatzkonkurrenten betrachten. Dann hätte man
das neue Fremdwort "Mobbing" nicht erfinden müssen.
Dann würden die Gerichte nicht überschwemmt mit Nachbarschaftsstreitigkeiten
über Gartenzwerge, die dem anderen den Hintern hinstrecken,
oder Äpfeln, die auf die verkehrte Seite fallen.
Der unsre Sünde selbst hinaufgetragen hat an seinem Leibe
auf das Holz, damit wir, der Sünde abgestorben, der Gerechtigkeit
leben. Durch seine Wunden seid ihr heil geworden.
Wie sagte es der vorherige Bundespräsident: ein Ruck müsste
durchs Land gehen. Jawohl: ein Ruck hin zu einer Gesellschaft der
Gerechtigkeit, zu einer Gesellschaft, die Wunden heilt in der Nachfolge
und nach dem Vorbild dieses Jesus von Nazareth.
Wir brauchen wieder Führer
Wenn wir auch gebrannte Kinder sind in Deutschland, wir brauchen
doch wieder Führer: Nicht Führer im alten Stil, sondern
solche, die selber den Weg gehen, den sie anderen empfehlen. Nicht
Führer, die Wasser predigen, und Wein trinken. Glaubwürdige
Vorbilder und nicht Verführer. Führer nach dem Vorbild
des Guten Hirten der Bibel. Und wir müssten selber im Kleinen
unseren Teil dazu beitragen.
Herr, erwecke deine Kirche und fange bei mir an. / Herr, baue
deine Gemeinde und fange bei mir an. / Herr, lass Frieden überall
auf Erden
kommen, und fange bei mir an. / Herr, bringe deine Liebe und Wahrheit
zu allen Menschen und fange bei mir an. Amen
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