Predigt |
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Dem Kranken nicht aus dem Weg
gehen
Wenn in der kommenden Woche ein paar Kranke mehr besucht würden als
vorher, dann wären wir als Gemeinde miteinander auf einem guten Weg. So
verstehe ich den heutigen Predigttext: Als eine Aufforderung, Begegnungen mit
Kranken nicht aus dem Weg zu gehen, denn Begegnungen können heilen.
40 Es kam zu Jesus ein Aussätziger, der bat ihn, kniete nieder
und sprach zu ihm: Willst du, so kannst du mich reinigen. 41 Und es jammerte
ihn, und er streckte die Hand aus, rührte ihn an und sprach zu ihm: Ich
will's tun; sei rein! 42 Und sogleich wich der Aussatz von ihm, und er wurde
rein. 43 Und Jesus drohte ihm und trieb ihn alsbald von sich 44 und sprach zu
ihm: Sieh zu, daß du niemandem etwas sagst; sondern geh hin und zeige
dich dem Priester und opfere für deine Reinigung, was Mose geboten hat,
ihnen zum Zeugnis. 45 Er aber ging fort und fing an, viel davon zu reden und die
Geschichte bekanntzumachen, so daß Jesus hinfort nicht mehr öffentlich
in eine Stadt gehen konnte; sondern er war draußen an einsamen Orten; doch
sie kamen zu ihm von allen Enden.
Die Situation eines Aussätzigen
Aussatz - hinter diesem Wort verbargen sich damals auf Anhieb: Angst,
Tod, Ausgestoßensein, Ekel und die heimliche Frage nach der Schuld.
Aussatz - die AIDS-Krankheit zur Zeit Jesu. Aussatz, damit beschreibt das Alte
Testament verschiedene Geschwüre und Hautkrankheiten, unter anderem auch
die sog. Lepra. Aussatz war entgegen allgemeiner Meinung nicht immer ein
Todesurteil. Ärztlich behandelt wurde zwar nicht, doch Aussatz konnte
alleine wieder ver¬ gehen. Ein Priester am Tempel hatte dann zur Sicherheit
die Heilung zu bestätigen, und der Betreffende brachte ein Dankopfer dar.
Isolation ist schlimmer als Krankheit
Wenn die Aussätzigen zu den Armseligsten der damaligen Zeit gehörten,
dann weniger wegen der Folgen ihrer Krankheit, sondern weil man sie ausstieß,
weil man sie aus der Gesellschaft verbannte. Und das geschah nicht nur wegen der
Ansteckung, sondern weil man in einem Aussätzigen auch einen von Gott
Gestraften sah. Das heilige Gottesvolk aber sollte nach dem Willen der Frommen
ein Volk reiner Menschen sein, rein in einem religiösen Sinn.
Und weil auch unrein wurde, wer einen Aussätzigen anfaßte, mußten
die Aussätzigen den Kontakt mit anderen meiden. Sie mußten erkennbar
sein: Sie mußten zerrissene Kleider tragen. Sie mußten aufgelöstes
Haar haben. Sie mußten, wenn jemand entgegen kam, zur Warnung "Unrein,
unrein" rufen. Ein totales Ausgestoßensein also, ein
gesellschaftliches und ein religiöses.
Unsere Berührungsängste
Wie steht's: Würden Sie einem AIDS-Kranken so ohne weiteres die
Hand geben? Würden Sie einen Körperbehinderten so ohne weiteres in den
Arm nehmen? Würden Sie einen pflegebedürftigen alten Menschen so ohne
weiteres betten und wickeln? In wem steckt dieser innere Schweinehund nicht, es
sei denn, er hätte beruflich mit Kranken zu tun? Wer macht schon gerne
Krankenbesuche? Wer geht schon gerne als Besucher ins Pflegeheim? Wenn es irgend
geht, meidet man die Begegnung und die Berührung. Gott sei Dank: Wenn man
dann in der eigenen Familie damit konfrontiert wird, gibt Gott mit der
anstehenden Aufgabe meist auch die nötige Kraft, mit der man zuvor nie
gerechnet hatte.
Der Schrei nach Zuwendung
Auch dem Aussätzigen in der biblische Geschichte hat man
beigebracht, daß er sich in sein Schicksal zu fügen und jeden Kontakt
zu meiden hat. Doch der Glaube und der letzte Funken Hoffnung lassen ihn alle
Schranken durchbrechen. Er fällt vor Jesus in die Knie.
"Willst du, so kannst du mich reinigen."
Wie weit muß ein Kranker sein, wenn er die Schranke durchbricht und
nach Zuwendung und Hilfe schreit? Leidet man sonst nicht eher still vor sich hin
und wartet doch heimlich und sehnsüchtig darauf, daß sich einer um
einen kümmert? Bei Besuchen anläßlich eines Trauerfalls höre
ich oft anerkennend: Sie hat ihr Leiden geduldig ertragen und nie gejammert. Ich
nicke dann meistens zustimmend, weil das Trauergespräch ein schlechter Ort
für Diskussionen ist. Vielleicht hätte die Kranke oder Sterbende doch
gerne geredet und ihr Herz ausgeschüttet, wenn sie nicht das Gefühl
gehabt hätte: Die anderen wollen es ja gar nicht hören. Sie wollen
lieber in Ruhe gelassen werden.
Der Ruf nach der Sterbehilfe
Die mit der Materie befaßt sind, sagen eindeutig: Der Ruf nach der
sog. Sterbehilfe, der Ruf nach der erlösenden Spritze sei überhaupt
nicht der Ruf nach dem Tod, sondern vielmehr der letzte, verzweifelte Schrei
nach menschlicher Zuwendung. Und sie sagen auch: Der, der solche Zuwendung und
auch Schmerzlinderung erfährt, rufe dann gar nicht mehr nach dem Tod.
Vor dem Kranken nicht davonlaufen
"Es jammerte ihn." heißt es in der Geschichte von Jesus,
als der Aussätzige vor ihm auf die Knie fällt. Da ist das griechische
Wort eher zu flach übersetzt. Es geht ihm bis in die Eingeweide, heißt
es wörtlich. Wir würden in unserem Sprachgebrauch sagen, es geht ihm
ans Herz, es geht ihm an die Nieren. Vielleicht erfaßt Jesus auch eine Art
heiliger Zorn: Zorn über die Krankheit. Zorn vielleicht mehr über die
scheinheilige Gesellschaft, die die Kranken ausstieß.
Darüber sollten wir aber nicht vergessen, daß diese
Begegnung mit dem Aussätzigen auch für Jesus eine Zumutung war. Er war
ganz Mensch, aufgewachsen in seinem Land und zu seiner Zeit. Er hat sich sicher
nicht nach dieser Begegnung gedrängt. Auch er muß eine religiöse
Schranke durchbrechen, wenn er, der Rabbi, einen Ausgestoßenen anrührt
und sich dadurch selbst unrein macht. Und neben der religiösen Schranke muß
er muß wohl auch eine ganz persönliche Schranke überwinden,
seinen Ekel und seine Angst zurückstellen. Aber er tut es, streckt seine
Hand aus und faßt den Mann an.
Heilung durch Berührung?
Wie lange mag diesen Mann schon niemand mehr angerührt haben! Wie
lange hat er vielleicht innerlich schon auf eine menschliche Geste gewartet?
Alle sind sie ihm bisher aus dem Weg gegangen und haben ihn sein Ausgestoßensein
spüren lassen. Die Frommen, weil sie den Umgang mit dem Sünder meiden
wollten, die anderen, weil sie sich das Leid und den Ekel vom Hals halten
wollten. Wenn es stimmt, daß Leben darin besteht, Beziehungen zu anderen
Menschen zu haben, Kontakt zu haben, dann war er jahrelang ein lebendiger Toter.
Von den lebendig Toten
Solche lebendig Tote auch in unserer Nachbarschaft blühen oft
alleine schon dadurch auf, daß man sie einmal reden läßt, daß
man ihnen echt zuhört, ohne gleich von den eigenen Sorgen anzufangen oder
das Gespräch geschickt auf ein anderes Thema zu bringen. Wie viele Kranke
und Alte in unserer Nachbarschaft leiden weniger darunter, daß sie alt und
krank sind, als darunter, daß man ihnen aus dem Weg geht; daß so
wenige ihre Scheu, ihre Angst, ihren Ekel überwinden und einmal eine Hand
oder ein Ohr übrig haben. Das würde sie gewiß nicht gesund und
auch nicht wieder jünger machen, aber es würde ihnen vielleicht das
Leben und die Würde zurückgeben.
Heilung als Möglichkeit
Die Geschichte mit dem Aussätzigen könnte damit eigentlich
schon zu Ende sein. Das größere Wunder ist nicht so sehr, daß
er gesund wird, sondern daß diese Schranke zu ihm abgebrochen und seine
Isolation aufgehoben wird. Aber auch das Unerwartete geschieht: er wird von
seinem Aussatz heil. Es hat keinen Sinn, zu spekulieren, wie das vor sich ging.
Die Bibel sagt, daß in Jesus Gott, der Schöpfer, selbst wirkt.
Deshalb geht die Frage, wie Jesus das kann und wie er es gemacht hat, in die
verkehrte Richtung. Auch Jesus versucht, dem aus dem Weg zu gehen, indem er dem
Kranken verbietet, davon zu erzählen. Er möchte nicht einseitig als
Wunderdoktor angesehen und verkündigt werden. Gott, der Schöpfer,
wirkt, doch er entzieht sich leider unseren Erklärungen und mutet uns zu,
damit leben, daß der eine gesund wird und der andere krank bleibt.
Der Platz der Kranken ist in der Gemeinde
Doch wenn ich den Aussätzigen richtig verstanden habe, ist das gar
nicht so sehr sein Problem. Hauptsache, er wird als Mensch ernst genommen und
seine Not kommt vor Gottes Ohr. Krankheit soll nach der Bibel nicht
totgeschwiegen, sondern vor Gott gebracht werden. Ja noch mehr: Kranke sollen
vor Gott gebracht werden. Wo rufen Kranke nach geistlichem Beistand? Wo rufen
Angehörige, wenn die Kranken oder Sterbenden es nicht mehr selbst können?
Wo suchen Kranke und Behinderte die Nähe Gottes und seiner Gemeinde im
Gottesdienst? Und: Wären wir überhaupt darauf vorbereitet? Und doch:
Der Platz der Kranken ist nicht außerhalb der Gemeinde, so wie damals. Der
Platz der Kranken ist in der Gemeinde. Wir sollen die Kranken persönlich
oder in der Fürbitte vor Gott bringen ohne Angst vor Enttäuschung.
Wir sollen sie vor Gott bringen mit den Worten des Aussätzigen: "Wir
wissen nicht, ob du diesem Menschen helfen willst, aber wir bringen ihn. Dein
Wille geschehe."
Gottesdienste mit Segnung und Salbung
Gottesdienste mit Segnung und Salbung werden seit drei Jahren in
Bayreuth angeboten. Lassen Sie mich zum Abschluß erzählen, wo das her
kommt:
In anderen christlichen Kirchen, z.B. der anglikanischen sind
Gottesdienste mit Kranken gang und gäbe. Sie werden in den Gottesdienst
eingeladen, besonders in den Abendmahlsgottesdienst oder spezielle
Heilungsgottesdienste. Sie werden mit ihren Betten und Rollstühlen
gebracht. Man betet für sie, legt ihnen die Hände auf, reicht ihnen
das Hl. Abendmahl. Man rechnet fest mit Gottes Macht. Doch was er mit einem
Menschen vor hat, das überläßt man ihm ganz allein. Manchmal, ja
nur manchmal werden Menschen auch gesund, bei denen ärztliche Hilfe
vergebens war. Viele aber verspüren Linderung. Doch wenn ein Mensch nicht
gesund wird, dann ist das kein Versagen von Menschen, die vielleicht nicht
richtig oder nicht genügend gebetet hätten oder deren Glaube nicht groß
genug wäre. Gott selbst ist und bleibt der Herr. Aber wie auch immer:
Menschen erfahren, daß sie nicht ausgestoßen sind. Sie erfahren, daß
die Gemeinde sie nicht aufgibt. Sie erfahren dadurch, daß sie Gott am
Herzen liegen.
Und das zweite Beispiel: In vielen Krankenhäusern der Schweiz ist
es üblich, vor einer Operation dem Patienten und seiner Familie eine
Andacht anzubieten. Auch die Ärzte, die den Eingriff durchführen sind
dabei. Man bittet Gott um das Gelingen ihres Tuns. Angst und Unsicherheit dürfen
ausgesprochen werden. Man feiert mit dem Kranken das Abendmahl. Man sagt ganz nüchtern:
Gelingt die Operation, ist es gut. Ob es die Ärzte gewesen sind, oder
Gottes Hilfe, oder beides zusammen? Was soll's? Und: Ist keine Rettung mehr möglich
und die Operation vergebens, wie könnte man als Familie besser Abschied
nehmen von einem Menschen, als im Angesicht Gottes mit einem Abendmahl und
gegenseitiger Vergebung?
Von dieser christlichen Nüchternheit, die keine Angst vor dem Mißerfolg
hat, wünsche ich uns mehr. |