Predigt |
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Grund unter den Füßen?
Sicher haben Sie schon vom Freiherrn von Münchhausen gehört,
jenem Lügenbaron aus dem 18. Jhd. Nach vielen Jahren Aufenthalt in fernen Ländern
tischte er ähnlich wie beim Jägerlatein seinen Freunden wilde
Abenteuergeschichten auf. Und eine der bekanntesten ist die, wo er sich mitsamt
seinem Pferd am eigenen Schopf aus einem Sumpf zog.
Man mag darüber schmunzeln, aber einen ernsten Hintergrund hat die
Geschichte doch. Sie erzählt davon, daß jeder Mensch festen Grund
unter den Füßen braucht. Und sie fragt danach, wie man diesen Grund
wieder bekommt, wenn er einem verloren geht.
Jeder braucht, im Bild gesprochen, festen Boden unter den Füßen.
Nicht nur, daß wir hier bei uns zufrieden sein können, daß uns
Erdbeben und Wasser nicht den festen Grund rauben. Wir brauchen solchen festen
Grund auch familiär. Wir brauchen ihn beruflich. Wir brauchen ihn seelisch.
Gar manchem wird dieser Grund schlüpfrig, wenn es vom geregelten
Arbeitsalltag in den ungeregelten Ruhestand geht. Und was es bedeutet, wenn
jemand seelisch keinen Grund mehr unter den Füßen hat, hat jener
prominente Fenstersturz vor gut einer Woche gezeigt. Ein Prominenter unter den
vielen Ungenannten, die sich ca. jede Dreiviertelstunde in Deutschland das Leben
nehmen.
Und nicht zuletzt: Jeder braucht diesen festen Grund auch geistlich,
auch, was den Glauben angeht. Daß Menschen ohne Glauben auskämen, ist
ja ein modernes Märchen. Sie kommen wohl ohne den christlichen, ohne den
biblischen Glauben aus, aber sie zimmern sich dann ihre eigene Religion, ihren
Ersatzglauben zusammen. Und wenn es der Glaube an die eigene Kraft und die
eigenen unbegrenzten Möglichkeiten ist.
"Rechtfertigungslehre"
"Habe ich solchen Grund unter den Füßen und wie bekomme
ich ihn?" "Bin ich mit mir selbst und mit Gott im Reinen?" Das
ist unter den Theologen die Frage der sog. "Rechtfertigung". Eine
Frage, an der sich damals die Kirchenspaltung entzündete. Eine Frage, die
Martin Luther zutiefst umgetrieben hat.
"Rechtfertigung". Das Wort hat ein Problem, weil es heute im
Alltag eine andere Bedeutung hat als unter den Theologen und in der Bibel. Es
ist ein Kunstwort, das nur zweimal in der Bibel vorkommt und da gar nicht an den
wichtigsten Stellen. Rechtfertigung das muß erst in die
Alltagssprache übersetzt werden. Im Alltag heißt Rechtfertigung: Ich
begründe, warum ich recht habe oder hatte. Das ist meine Sache. Nach der
Bibel ist mit Rechtfertigung die Frage gemeint: "Wie bin ich vor Gott
recht?" Und das ist nach der Bibel allein Gottes Sache.
Das Ringen Martin Luthers
Martin Luther hat diese Frage umgetrieben: "Wie bin ich Gott recht?"
Und er hat versucht, die Frage für sich auf die beste Art zu lösen,
die ihm die mittelalterliche Kirche anbieten konnte: Er wurde Mönch, noch
dazu im strengsten Kloster seiner Umgebung. Münchhausen ähnlich wollte
Luther vor Gott aus eigener Kraft Boden unter die Füße bekommen. Er
hatte gelernt: Du mußt tun, was in deiner Kraft steht. Du mußt an
die Grenzen deiner Möglichkeiten gehen. Dann streckt dir Gott eine Hand
entgegen und hilft dir heraus. Also nicht ganz so wie bei Münchhausen, der
sich aus eigener Kraft aus dem Sumpf zieht, aber so auf die Art: Du mußt
erst strampeln, so gut du kannst, dann wird man dir schon helfen.
Doch Luther merkt: Je mehr er strampelt, desto tiefer strampelt er sich
in den Sumpf hinein. Je mehr er sich anstrengt, desto bedrückender wird die
innere Frage: Hast du wirklich schon getan, was du kannst? Könntest du
nicht doch viel mehr? Und mit jedem äußerlichen Fortschritt ist er
innerlich doch nur immer unsicherer geworden. Nach außen ein Bilderbuchmönch,
nach innen ohne Boden unter den Füßen. Bis er dann beim Lesen der
Bibel entdeckt: Mein ganzes Strampeln hilft nichts. Ich kann nur von Grund auf
und von Anfang an die Hand ausstrecken und mir heraushelfen lassen. Und er erfährt:
Gott hilft ihm heraus. Er hört und begreift die Botschaft: "Du bist
mir recht! Nicht weil du so viel gestrampelt hast, sondern weil du um Christi
willen geliebt bist."
Luther und die "Guten Werke"
Als er das begriffen hat, hat er festen Boden, hat er Grund unter den Füßen.
Nicht, daß er dann das Strampeln für Gott und die Menschen aufgegeben
hätte, nein. Aber er hat gemerkt: Sich Gottes "Du bist mir recht!"
erstrampeln wollen, führt nur immer tiefer in den Sumpf hinein. Aber
Strampeln auf festem Boden führt voran. Das ist gemeint, wenn Luther sagt:
Mit guten Werken kannst du dir vor Gott die Gerechtigkeit nicht verdienen. Aber
sobald du erfahren hat: "Ich bin ihm recht. Ich bin gerechtfertigt."
gehören die guten Werke dazu. Sie geschehen mehr oder weniger alleine.
Die ökumenischen Bemühungen um die Rechtfertigung
Seit Jahren nun sind evangelische und katholische Theologen über
diesem Thema miteinander im Gespräch: Wie wird ein Mensch Gott recht?
Welche Bedeutung haben seine Anstrengungen und seine guten Taten? Und so wird
heute in Augsburg der mittelalterliche Streit, wo einer den anderen verdammte
und verwarf, beigelegt. Aus den unversöhnlichen mittelalterlichen
Gegenpolen: Rechtfertigung ist reines Geschenk, ist unverdiente Gnade. Und: Ich
muß tun, was in meiner Macht steht, dann erst bekomme ich das Geschenk.
Aus diesen zugespitzten Gegenpolen ist die gemeinsame Position geworden: Daß
ich Gott recht bin, ist durch und durch sein Geschenk. Doch wenn ich das
begriffen habe, dann soll und werde ich auch tun, wozu mich meine Kraft und
meine Gaben befähigen.
Die Rechtfertigungslehre heute
Daß diese Gespräche zwischen den Theologen in den letzten
Jahren in den Gemeinden praktisch gar nicht wahrgenommen wurden, daß man
in den Gemeinden den Streit auch gar nicht recht verstehen konnte, und daß
man in den Gemeinden auch nicht recht versteht, weswegen so viele lutherische
Theologen heute in Deutschland gegen diese Einigung kämpfen, hat v.a. darin
seinen Grund, daß die Theologen, daß wir Theologen es oft nicht
schaffen, die Frage verstehbar zu machen.
"Rechtfertigung" übersetzen!
Die Frage der Rechtfertigung, die Frage: "Wie bin ich Gott recht?
Wie bin ich mit ihm und mit mir im Reinen?" muß immer wieder neu aus
dem Himmel der Theologen auf die Erde der Gemeinde heruntergeholt werden. Wie könnte
es gehen? Vielleicht, indem man mit zwischenmenschlichen Beispielen davon redet
und indem man erzählt.
Rechtfertigung: "Du bist mir recht!"
Rechtfertigung zwischenmenschlich ist gerade nicht da, wo sich einer
rechtfertigt, sondern wo einer zum anderen, eine zur anderen sagt: "Du bist
mir recht!" "Du bist mir recht!" sagt ein Liebender zum anderen.
Heißt das, daß der andere fehlerlos wäre? Heißt das, daß
er es sich sauer verdient hätte? Nein, dieses "Du bist mir recht!"
ist Geschenk. Es ist das Ergebnis eines liebenden Hinschauens und nicht das
Ergebnis einer nüchternen Rechnung. "Du bist mir recht!" sagen
sich die Liebenden. "Du bist mir recht!" das sagen Eltern zu ihren
Kindern. (Hoffentlich!) "Du bist mir recht!" das leben Freunde oder
Kollegen. "Du bist mir recht!" sagt Gott. "Du bist mir recht, wie
du bist!" Auch bei ihm Ergebnis liebenden Hinschauens und nicht nüchternen
Rechnens.
Rechtfertigung erzählen
Und das andere: Rechtfertigung erzählen. Wie könnte man es
besser als mit Jesusgeschichten, in denen sich auch heute Menschen wiederfinden:
Denken Sie nur an die Paradegeschichte vom kleinen Oberzöllner Zachäus:
Am Geld fehlt's ihm nicht, aber an der Körpergröße. Finanziell
hat er Boden unter den Füßen. Doch drinnen schaut es offenbar ganz
anders aus. Er steigt auf einen Baum, um den vorbeiziehenden Jesus unverbindlich
zu sehen. Auf der einen Seite möchte er möglichst selbst nicht gesehen
werden. Und auf der anderen Seite sehnt er sich nach der Zuwendung, die ihm
seine Mitmenschen zu Recht versagen. Und Jesus, als er ihn sieht: "Steig
herunter. Ich will heute Abend dein Gast sein."
Rechtfertigung mittelalterlich katholisch und auch nach der Auffassung
vieler heutiger Zeitgenossen hätte geheißen: "Na, du alter
Gauner. Ich würde zwar gerne mal bei Dir zu Gast sein, aber dazu mußt
Du erst dein Leben ändern und deinen unrechtmäßig erworbenen
Besitz zurückgeben. Dann können wir drüber reden."
Und auch Zachäus begreift in diesem Moment, was Rechtfertigung ist;
nämlich gerade nicht, sich zu rechtfertigen. Hätte er nicht sagen können:
"Meister, du mußt meine Lage verstehen. Ich muß Frau und Kinder
ernähren. Jeder Beruf hat so seine Zwänge. Jeder will leben. Und der,
von dem ich die Zollstation gepachtet habe, verlangt so viel von mir, daß
ich auf anständige Art und Weise nie zu meinem Geld kommen kann."
Stattdessen sagt Jesus "Du bist mir recht." und durch seinen
Besuch sagt er es nicht nur, sondern setzt es auch in die Tat um. Und Zachäus
macht nichts anderes als dankbar die ausgestreckte Hand zu ergreifen. Und siehe
da: Der auf einmal wieder festen Grund unter den Füßen hat, wird von
Grund auf verwandelt. Und das gibt es auch heute noch. Gott sei Dank! |