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Die Predigt |
Wer krank ist,
lernt die Gesundheit schätzen
„Das Gefühl für Gesundheit erwirbt man sich nur durch
Krankheit.“ So sagte es der kluge Philosoph Georg Christoph
Lichtenberg im 18. Jhd. Aber Sie wissen ja, eigentlich brauchen wir
dazu gar keinen Philosophen, denn es ist altbekannt: Krankheit ist
oft erst dann ein Thema, wenn man selbst oder ein naher Angehöriger
gerade krank ist. Sind wir wieder gesund, ist das Thema schnell wieder
erledigt. Wir nehmen uns vielleicht vor, unsere Gesundheit in Zukunft
höher zu schätzen und dankbarer zu sein, und dann holt uns
bald der Alltag wieder ein.
„Die große Krankenheilung“. So lautet das Thema
dieses heutigen 12. Sonntag nach Trinitatis. Jahr für Jahr neu
werden wir als Gottesdienstbesucher an diesem Sonntag also mit der
Frage nach Krankheit und Heilung konfrontiert – ganz egal, ob
wir gerade krank sind oder gesund. Und vielleicht ist das gut so:
Ist es nicht viel besser, sich mit Lebensfragen dann schon auseinander
zu setzen, wenn das Problem noch gar nicht akut ist?
Wozu ist Krankheit da?
Wenn ich mich umschaue, entdecke ich drei verschiedene Sichten von
Krankheit, und damit verbunden auch drei verschiedene Möglichkeiten,
mit ihr umzugehen:
Die eine: Krankheit ist das, was nicht sein darf. Krankheit ist schlecht.
Man muss sie möglichst schnell wieder loswerden, weil das eigentliche
Leben erst wieder weitergeht, wenn die Krankheit vorbei ist. Und die
Chemie ist dazu da, die Krankheit entweder zu unterdrücken oder
doch wenigstens zu verkürzen.
Eine weitere Sicht fragt tiefer und sagt: Krankheiten gehören
zum Leben. Krankheiten weisen darauf hin, dass irgend etwas im Körper,
in der Seele oder bei den eigenen Gewohnheiten nicht stimmt. So haben
sie auch einen Sinn, und es lohnt sich, nach diesem Sinn zu fragen
und zu suchen. Sie brauchen ihre Zeit. Man soll sie nicht unnötig
mit Medikamenten verjagen, sondern durchkämpfen und überwinden.
Anschließend kann man dann vielleicht mit neuer Energie und
vielleicht mit neuen Erkenntnissen aus ihnen hervorgehen.
In den schönen Zwischentexten unseres Gesangbuchs lesen wir,
wie es der französische Schriftsteller André Gide in Worte
gefasst hat: „Ich glaube, dass die Krankheiten Schlüssel
sind, die uns gewisse Tore öffnen können. Ich glaube, es
gibt gewisse Tore, die einzig die Krankheit öffnen kann.“
(Gesangbuch S. 1480)
Und noch eine dritte Sicht, die von beidem etwas hat: Krankheiten
sollen nach Gottes Willen nicht sein. Doch sie haben einen Sinn darin,
dass sie überwunden werden. Gott will, dass Menschen geholfen
wird. Gott will, dass Menschen gesund und heil werden. Und mit Gottes
Hilfe sollen wir gegen jede Krankheit kämpfen. Das geht so weit,
dass manche sagen, jede Krankheit sei im Namen Jesu besiegbar.
Gott noch mehr zutrauen
Ich weiß nicht, welcher dieser drei Möglichkeiten Sie eher
zuneigen: Krankheit als Übel, das möglichst schnell vergehen
soll. Krankheit als etwas, was einen tieferen, auch guten Sinn hat.
Krankheit als etwas, was mit Gottes Hilfe überwunden werden soll
und kann.
Fragen Sie mich nicht, wo die Wahrheit liegt. Vielleicht irgendwo
in der goldenen Mitte, denn jede dieser Antwortversuche kann einseitig
werden.
Den Predigttext dieses heutigen Sonntags sehe ich in diesem Zusammenhang
als eine Einladung, der Macht Gottes doch noch viel mehr zuzutrauen
als bisher, was unseren Umgang mit der Krankheit angeht. Aus der Apostelgeschichte
Kapitel 3 stammt die folgende Erzählung. Es war die Zeit, als
Jesus nicht mehr da war. Seine Jünger lebten als Juden weiter
in ihrer alten Umgebung. Aber sie hatten inzwischen ihre Angst überwunden
und redeten und heilten in seinem Namen.
(Text siehe oben)
Ich will mit Ihnen den Schritten der Erzählung entlanggehen.
Vielleicht können Sie sich in die eine oder andere Person hineinversetzen
und sie dadurch lebendig werden lassen.
Ein Kranker als Geldquelle?
3 1 Petrus aber und Johannes gingen hinauf in den Tempel um die
neunte Stunde, zur Gebetszeit. 2 Und es wurde ein Mann herbeigetragen,
lahm von Mutterleibe; den setzte man täglich vor die Tür
des Tempels, die da heißt die Schöne, damit er um Almosen
bettelte bei denen, die in den Tempel gingen. 3 Als er nun Petrus
und Johannes sah, wie sie in den Tempel hineingehen wollten, bat er
um ein Almosen.
Das ist die Ausgangssituation: Ein Behinderter, gelähmt von Geburt
an, wird von seinen Angehörigen jeden Tag an eines der Tore zum
Tempelbereich gesetzt. Um die neunte Stunde, also Nachmittag um drei:
Da war es nicht mehr so heiß wie am Mittag, und außerdem
war um diese Zeit eine gewohnte Gebetszeit, die viele fromme Juden
nutzten. Und so wie das regelmäßige Gebet selbstverständlich
war für einen frommen Juden, so war auch das Almosengeben selbstverständlich.
Almosen für einen schuldlos in Not Geratenen – das war
die Sozial-, die Unfall- und die Krankenversicherung der damaligen
Zeit. Auf diese Weise wird der Behinderte zum Mitverdiener seiner
Familie. Ja, wer weiß, vielleicht sogar zum Hauptverdiener.
Zugespitzt könnte man sagen: Er ist mit seiner Not ein Mittel
zum Zweck. Nach seinem Ergehen, nach seinen Gefühlen, nach ihm
als Mensch hat ihn womöglich lange Zeit niemand gefragt. Er ist
Mittel zum Zweck für seine Familie: nämlich Verdienstquelle.
Und er ist auch Mittel zum Zweck für die Frommen: Er ist einer,
an dem man ein gutes und verdienstliches Werk tun und dann mit sich
und Gott zufrieden von dannen gehen kann.
Alle haben sich an dieses Spielchen gewöhnt, Tag für Tag,
Jahr für Jahr. Und auch der Kranke hat sich daran gewöhnt
und mit seiner Situation abgefunden. Dass er noch einmal gesund werden
könnte, hatte er vermutlich nicht im Blick.
Wie ist das bei uns? Wie schnell gewöhnen wir uns an Krankheitssituationen,
machen das Beste daraus, versuchen, irgendwie so recht und schlecht
damit zu leben? Das ist auf der einen Seite gut, denn man muss ja
auch Realitäten ins Auge sehen lernen und kann nicht dauernd
nur hadern. Aber könnte es nicht auf der anderen Seite auch sein,
dass wir uns zu schnell an etwas gewöhnen, und dann auch Gott
keinerlei Veränderungen mehr zutrauen?
Das alte Gebet fällt mir ein: „Gott gebe mir die Gelassenheit,
Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann; den Mut, Dinge
zu ändern, die ich ändern kann; und die Weisheit, das eine
vom anderen zu unterscheiden.“ (Reinhold Niebuhr, Gesangbuch
S. 1109) Steht übrigens auch als Zwischentext im Gesangbuch!
Kann Beachtung gesund machen?
4 Petrus aber blickte ihn an mit Johannes und sprach: Sieh uns
an! 5 Und er sah sie an und wartete darauf, dass er etwas von ihnen
empfinge.
Tag für Tag, Jahr für Jahr sitzt der Mann also da. Und dann
erlebt er plötzlich eine ganz neue Situation: Da geht nicht einfach
jemand wie immer wortlos vorbei und wirft ihm im Vorübergehen
eine Münze hin. Nein, es spricht ihn jemand an. Da interessiert
sich plötzlich einer für den Menschen, der da sitzt. Er
ist nicht länger nur Mittel zum Zweck, sondern wird als Mensch,
als Person ernst genommen. Er wird wahrgenommen, vielleicht zum ersten
Mal nach langer Zeit. „Sieh uns an.“ Da wird Kontakt aufgenommen.
Man schaut sich in die Augen. Man nimmt sich ernst. Sich ansehen und
miteinander reden, jemandem ein wenig Zeit gönnen: Erst das macht
einen Menschen von einem Niemand zu einer Person.
Doch so sehr ist der Gelähmte in seinem Denken und Fühlen
gefangen, dass er auch wieder nur damit rechnet, dass er von Petrus
und Johannes etwas bekommt. Vielleicht, wenn er sie ansehen soll,
etwas mehr als sonst üblich. Dass da noch ganz anderes sein könnte,
dass sich seine Situation noch einmal grundlegend wandeln könnte,
von der Hoffnung hat er sich vermutlich schon lange verabschiedet.
Und heute? Wie viele Menschen, nicht nur kranke, warten heimlich und
sehnsüchtig darauf, dass man mit ihnen spricht und sie als Mensch
ernst nimmt? Wie viele werden erst dadurch krank, dass sie einsam
sind und niemand zum Reden haben, v.a. im Alter? Wie viele warten
vielleicht darauf, dass sie nicht nur der Beinbruch von Zimmer 21
sind? Ja, wie viele würden möglicherweise allein dadurch
wieder gesund, an Seele und Leib, wenn man sie wirklich wahrnähme
und ernst nähme?
Aber auch: Rechnen wir überhaupt mit einer solchen Entwicklung
der Dinge? Trauen wir Gott überhaupt so viel zu?
Der Krankheit ihre Macht nehmen
6 Petrus aber sprach: Silber und Gold habe ich nicht; was ich
aber habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi von Nazareth steh
auf und geh umher! 7 Und er ergriff ihn bei der rechten Hand und richtete
ihn auf.
Dieser Petrus gab sich also gerade nicht mit dem Leiden und mit der
Krankheit zufrieden, mit der sich der Kranke, seine Angehörigen
und die täglich Vorübergehenden schon lange zufriedengegeben
hatten. Ergreift eine Krankheit nicht erst dann so richtig Macht über
einen, wenn man sie Herr sein lässt? Könnte ihr nicht schon
durch menschliche Annahme und Wärme und durch gläubigen
Widerspruch ihre Macht genommen werden?
Petrus rechnet damit, dass es noch etwas Mächtigeres gibt als
die Macht der Krankheit. Der Name des Jesus von Nazareth ist für
ihn die größte Macht, der sich andere Mächte beugen
müssen. Mit seinem Namen ist der auferstandene und unsichtbare
Herr mit seiner Macht und Kraft selbst gegenwärtig. Und wenn
er Kranke gesund wird, dann ist es nicht der Mensch Petrus gewesen,
sondern Jesus Christus, sondern Gott selber. Aber: Es braucht Menschen,
die Gott mehr zutrauen als andere. Es braucht Menschen, die sich nicht
zu schnell zufrieden geben und damit erst Krankheit und Leiden mächtig
werden lassen. Vielleicht erleben wir als Christen davon nur deshalb
so wenig, weil wir damit überhaupt nicht rechnen und weil wir
es nicht tun.
Noch öfter und noch zuversichtlicher sollten wir es dem Petrus
nachtun, und dort, wo uns ein Mensch am Herzen liegt, im stillen oder
hörbaren Gebet die Macht und den Segen Gottes über ihm ausrufen.
Ob es dann Heilung geben soll, oder Gott etwas Anderes mit ihm vor
hat, das liegt nicht mehr in unserer Macht, sondern ist allein seine,
des Schöpfers Angelegenheit. |
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