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predigt[e].de

Die Predigt vom 18. November 2001: »Stell dir vor, es ist Krieg ...«


Kirchenjahr

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Feiertagskalender (Tabelle)

  Die Evangelische Kirche beging den Vorletzten Sonntag des Kirchenjahres, im weltlichen Kalender auch als Volkstrauertag begangen. Evangelium ist das Gleichnis vom Weltgericht, Epistel das Seufzen des Paulus über die Vergänglichkeit von Welt und Mensch. Predigttext war ein Abschnitt aus dem Propheten Jeremia, bei dem man den Krieg in Afghanistan nicht ausklammern kann:

Predigttext

Sie können Texte auch online nachlesen. Bibellinks finden Sie unter Glaube und Leben.

  4 Sprich zu ihnen: So spricht der HERR: Wo ist jemand, wenn er fällt, der nicht gern wieder aufstünde? Wo ist jemand, wenn er irregeht, der nicht gern wieder zurechtkäme? 5 Warum will denn dies Volk zu Jerusalem irregehen für und für? ... 6 Ich sehe und höre, daß sie nicht die Wahrheit reden. Es gibt niemand, dem seine Bosheit leid wäre und der spräche: Was hab ich doch getan! Sie laufen alle ihren Lauf wie ein Hengst, der in der Schlacht dahinstürmt. 7 Der Storch unter dem Himmel weiß seine Zeit, Turteltaube, Kranich und Schwalbe halten die Zeit ein, in der sie wiederkommen sollen; aber mein Volk will das Recht des HERRN nicht wissen.

Predigt

  Die Kirche und der Krieg in Afghanistan

"Was sagen Christen zu diesem Krieg?" So kann man auf der Titelseite des "Sonntagsblattes" lesen, der Evangelischen Wochenzeitung für Bayern. Und in einem Leserbrief im Nordbayerischen Kurier hieß es vor ein paar Tagen, die Kirchen würden sich "merkwürdig stumm" verhalten in dieser Situation. Und da war da auch der Unterschriftenaufruf Mitte der vergangenen Woche unter dem Motto: "Dies ist nicht mein Krieg." Wer unterschrieb, machte damit deutlich, dass die Abgeordneten ihn nicht vertreten, wenn sie Ja sagen würden zu dieser Entsendung deutscher Soldaten.

In der Zwickmühle

Sie haben mehrheitlich anders entschieden, unsere Volksvertreter. Und ich meine doch, sie hätten es sich bei allen politischen Winkelzügen am Freitag nicht leicht gemacht. Seien wir froh, dass wir nicht zu einem namentlichen Ja oder Nein in der Öffentlichkeit gezwungen sind. Gibt es die eindeutige Antwort? Gibt es die eine Wahrheit und wo liegt sie?

Die einen erinnern in dieser Zwickmühle daran, dass die Politik sich nach dem 2. Weltkrieg einig war: "Von deutschem Boden soll nie wieder ein Krieg ausgehen." Oder wie es der junge Franz Josef Strauß damals formulierte: "Wenn wir noch einmal eine Waffe anfassen, dann soll uns der Arm abfallen." Und so fragen sie: Sind Flächenbombardierungen und Riesenbomben, die in einem Kilometer Durchmesser jegliches Leben auslöschen, wirklich ein geeignete Mittel gegen Terroristen? Haben die Bomben nicht zu viele Unschuldige getroffen, sogar Einrichtungen des Roten Kreuzes? Und: Wenn man sich im Kampf gegen die Taliban so deutlich auf die Seite der Nordallianz stellt, ist das nicht so, als würde man die Pest mit der Cholera vertreiben?

Und die anderen entgegnen: Dem Regime in Afghanistan, das die Menschenrechte, v.a. die Frauenrechte so mit Füßen getreten hat, ist eben nicht mit anderen Mitteln beizukommen gewesen. Ist es nicht ein Segen, dass Frauen nun wieder unverschleiert gehen und Mädchen die Schulen besuchen dürfen? Und: Haben wir die Terroristen vielleicht gerade noch rechtzeitig vor der Herstellung viel schlimmerer Waffen stoppen können?

Die Zwickmühle der Christen

Ist es ein Wunder, dass auch Christen in dieser Zwickmühle nicht zu einer eindeutigen Antwort finden können? Das hat sich auch auf der Synode der EKD, der Evangelischen Kirche in Deutschland, die vorletzte Woche in Amberg tagte, gezeigt: Für die einen ist der Griff zur Waffe von Jesus her völlig undenkbar. Andere halten die Gewaltanwendung gegen den Terrorismus als allerletztes Mittel für tragbar und fragen: Waren wirklich schon alle anderen Mittel ausgeschöpft und ist man nicht über das Ziel hinausgeschossen? Und wieder andere verweisen darauf, dass man als Christ auch Schuld auf sich lädt, wenn man den Terrorismus gewähren lässt und ihm nicht mit allen denkbaren Mitteln entgegentritt.

Der Ratsvorsitzende Kock formulierte es so: "Die evangelische Kirche hat kein Lehramt, das in dieser Frage eindeutig entscheiden könnte. ... Die Zerrissenheit geht manchmal durch einzelne Personen, die Synode und die ganze Gesellschaft."

Sonntag vom Weltgericht und Volkstrauertag

Wo liegt die Wahrheit? Gibt es sie in dieser Zerrissenheit? Auch wir können diesem Zwiespalt nicht ausweichen an diesem heutigen Sonntag, egal ob man ihn als Vorletzten Sonntag des Kirchenjahres begeht oder als Volkstrauertag: Am Vorletzten Sonntag des Kirchenjahres werden wir daran erinnert, dass wir uns mit dem, was wir getan oder auch nicht getan haben, vor Gott verantworten müssen. Und der Volkstrauertag erinnert an die Opfer der beiden Kriege des 20. Jhd. und mahnt: "Nie wieder Krieg."

Jeremia und der Tanz auf dem Vulkan

Vielleicht kann die Besinnung auf die Worte des heutigen Predigttextes helfen, Ordnung in die Gedanken zu bringen. Wir lesen beim Propheten Jeremia im 8. Kapitel:

4 Sprich zu ihnen: So spricht der HERR: Wo ist jemand, wenn er fällt, der nicht gern wieder aufstünde? Wo ist jemand, wenn er irregeht, der nicht gern wieder zurechtkäme? 5 Warum will denn dies Volk zu Jerusalem irregehen für und für? ... 6 Ich sehe und höre, daß sie nicht die Wahrheit reden. Es gibt niemand, dem seine Bosheit leid wäre und der spräche: Was hab ich doch getan! Sie laufen alle ihren Lauf wie ein Hengst, der in der Schlacht dahinstürmt. 7 Der Storch unter dem Himmel weiß seine Zeit, Turteltaube, Kranich und Schwalbe halten die Zeit ein, in der sie wiederkommen sollen; aber mein Volk will das Recht des HERRN nicht wissen.

Ein schrulliger Weltuntergangsprophet

Ich versuche mir den Propheten Jeremia bildlich vorzustellen, damals, ein paar Jahre vor dem Zusammenbruch des Reiches Israel und der Zerstörung Jerusalems. Ein einsamer, schrulliger Mahner war er zeitlebens. So ähnlich vielleicht wie jener alte Mann in der Stadt mit seinen handgeschriebenen Tafeln, der vor dem Weltuntergang warnt. Ausgelacht hat man ihn. Verfolgt hat man ihn, wenn er die damaligen Herren kritisierte. Es ging den Menschen gut. Es ging ihnen so gut, dass sie keinen Gott gebraucht haben. Sicher, es gab politische Spannungen. Aber über die haben sie hinweggesehen im Vertrauen auf ihre militärische Stärke und die ihrer Verbündeten.

Vom Instinkt der Zugvögel

Vielleicht stand Jeremia am Tempel, dort wo die meisten Leute vorbeikamen und fing ganz harmlos an: "Ihr seht doch die Vögel dort am Himmel: Störche, Tauben, Kraniche, Schwalben. Ihr wißt, daß sie alle Jahre über uns hinwegfliegen. Ihr wißt: Sie kommen aus dem Norden, und wenn es dort kalt wird, fliegen sie los nach Süden, über uns hinweg nach Afrika. Das wiederholt sich jedes Jahr. Die Vögel wissen, wann es Zeit ist, aufzubrechen und umzukehren. Täten sie es nicht, würden sie umkommen."

Und dann haben die Umstehenden vielleicht gedacht: "Was soll das Ganze. Will er uns heute wohl Naturkundeunterricht halten".

Keiner bleibt gerne liegen

Und Jeremia weiter: "Noch etwas anderes will ich euch fragen: Wenn einer von euch hinfällt - wie schnell ist das passiert -, steht er dann nicht sofort wieder auf und bleibt nicht im Dreck liegen? Oder: Wenn jemand von euch sich verläuft, bleibt er dann nicht sofort stehen, sobald er es merkt und kehrt um, um den richtigen Weg zu suchen?" "Klar doch", haben sie vielleicht gerufen, "was erzählst du uns das überhaupt?"

Und nun sagt Jeremia, worum es ihm geht: "Ihr seid gemeint. Bei euch ist das alles anscheinend nicht selbstverständlich: Ihr seid auf dem falschen Weg und wollt es nicht wahrhaben. Ihr merkt nicht, wann es Zeit ist, umzukehren wie die Vögel. Wer von Euch seine Augen aufmacht, müßte sehen, wo es hingeht, politisch und auch wirtschaftlich. Für Gott, seine Gebote und für eure Mitmenschen habt ihr kein Auge mehr. Die Wahrheit wird mit Füßen getreten. Ihr lebt in den Tag hinein. Keiner will zugeben, daß es so nicht weitergehen kann. Wie mit Scheuklappen rennt ihr stur geradeaus. Gott ist über euch geradezu ratlos, er ist traurig. So viele deutliche Zeichen hat er euch schon gegeben und ihr wollt nicht hören. Und wenn es dann zu spät ist, werdet ihr kommen und schreien: Wie kann Gott das zulassen?"

Mit Hurra in den Krieg?

"Sie laufen alle ihren Lauf wie ein Hengst, der in der Schlacht dahinstürmt." Bei aller Zerrissenheit der Meinungen kann man diesen Vorwurf unseren Abgeordneten und auch den Christen, die sich in die politische Diskussion einschalten, in diesen Tagen nicht machen: Dass sie blind und mit Hurra in einen Krieg hineinrennen und die Zeichen der Zeit gar nicht erkennen können.

Das ist in den beiden Kriegen des vergangenen Jahrhunderts anders gewesen: da sind wirklich viele um der vermeintlich guten Sache willen mit Hurra losgestürmt wie der Hengst in der Schlacht. Oder auch, wenn religiöse Verführer junge Muslime glauben machen, sie kämen direkt in den Himmel, wenn sie als Märtyrer im Heiligen Krieg ihr Leben lassen. Und auch manche patriotische amerikanische Äußerung geht durchaus in diese Richtung.

Tanz auf dem Rand des Vulkans?

Und dennoch lässt mir die Frage des Jeremia keine Ruhe: Habt ihr noch den gesunden Instinkt der Vögel? Seht ihr als Christen wirklich die Zeichen der Zeit? Merkt ihr, wo die Grenzen sind? Gaukeln euch vielleicht Medien und Politiker eine ganz andere Wirklichkeit vor? Gleichen wir vielleicht doch den Menschen damals in Jerusalem, die am Abgrund tanzen, die - Scheuklappen auf den Augen - geradeaus rennen trotz aller Anzeichen und Vorboten? Gleichen wir den Menschen auf der Titanic, die in den Tod hinein tanzen? Wo wird man unsere Generation später einmal fragen: Warum habt ihr eure Augen nicht rechtzeitig aufgemacht?

Viele geben sich zufrieden, indem sie sagen: Was kann ich Kleiner denn schon ändern? Doch ich erinnere mich an ein Wort aus Afrika: "Viele kleine Menschen an vielen kleinen Orten können das Gesicht der Welt verändern." Und ich habe Jesu Wort in den Ohren: "Was du nicht getan hast einem dieser Geringsten ..." - "Du!"

Jeremia heute?

Auch wenn ich ihnen nicht in allem folgen kann, so freue ich mich doch über die kleineren oder größeren Jeremias heute, die gegen den Strom der Mehrheitsmeinung schwimmen, die den Finger in die schmerzende Wunde legen, die im Bundestag tapfer gegen die Mehrheitsmeinung stimmen, die durch Leserbriefe und Unterschriftenaktionen die Bevölkerung aufrütteln. Wer weiß, ob sie nicht doch von Gott gesandt sind zu Menschen, die auf dem Rand des Vulkans tanzen?

"Laß uns in deinem Namen, Herr, die nötigen Schritte tun. Gib uns den Mut, voll Glauben, Herr, heute und morgen zu handeln." Amen

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Michael Thein • Pfarrer • Kaulbachstraße 2b• 95447 Bayreuth • Tel. 0921-65378 • Fax 03222-2426857

mic.thein@t-online.de www.michael-thein.de