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Die Predigt |
„... als
wenn dieser Tag der letzte sein könnte“
„Lebe so, als wenn dieser heutige Tag dein letzter sein könnte."
Das ist eine alte, oft wiederholte Weisheit. Man hat sie schon vielen
großen Denkern in den Mund gelegt. Aber eigentlich muss man
dazu gar kein Philosoph sein oder eine bestimmte Bildung haben.
„Lebe so, als wenn dieser heutige Tag dein letzter sein könnte."
Eine Binsenweisheit, aber doch eine, um die wir uns lieber drücken.
So richtig bewusst wird sie einem immer erst dann, wenn man die sog.
Grenzerfahrungen macht: Von einer Krankheit gesund geworden, die hätte
schlimmer ausgehen können. Eine Botschaft vom Arzt bekommen,
die einen hat aufatmen lassen. Im Straßenverkehr knapp einem
Unfall entronnen. Beim Tod eines guten Bekannten, der genauso alt
oder noch jünger ist.
Es hat bei unserer menschlichen Verdrängungskunst schon seinen
guten Sinn, wenn am Ende des Kirchenjahres alle Jahre wieder dieser
ernste Ton angeschlagen wird.
Das Kommen Gottes am „Tag des Herrn“
Lebe als Christ so, als wenn dieser heutige Tag der letzte der ganzen
Welt sein könnte, so könnte man die Botschaft des Apostels
Paulus aus dem heutigen Predigttext umformulieren.
Vom „Tag des Herrn" und dass er unversehens kommt, redet
Paulus. „Tag des Herrn", das ist ein alttestamentlicher
Ausdruck für den Tag, an dem Gott, der Herr, dieser sichtbaren
Welt ein Ende setzt. Und dieser sog. jüngste Tag ist für
Paulus nicht so sehr ein erschreckendes, eher ein ermutigendes Ereignis:
Der jüngste Tag ist ein Tag der Gerechtigkeit für die, die
im Leben keine Gerechtigkeit erfahren haben. Er ist eine Drohung eigentlich
nur für die, die die Gerechtigkeit mit Füßen treten.
So lesen wir im 1. Brief an die Gemeinde in Thessalonich im 5. Kapitel:
1 Von den Zeiten und Stunden aber, liebe Brüder, ist es nicht
nötig, euch zu schreiben; 2 denn ihr selbst wisst genau, dass
der Tag des Herrn kommen wird wie ein Dieb in der Nacht. 3 Wenn sie
sagen werden: Es ist Friede, es hat keine Gefahr -, dann wird sie
das Verderben schnell überfallen wie die Wehen eine schwangere
Frau, und sie werden nicht entfliehen. 6 So lasst uns nun nicht schlafen
wie die andern, sondern lasst uns wachen und nüchtern sein.
Wann begegnet mir Gott?
Den jüngsten Tag für das eigene Leben schieben wir im Alltag
schon weit weg. Noch weiter weg aber ist für unser Denken der
jüngste Tag für die ganze Welt. Dafür geht es uns in
dieser westlichen Welt ganz einfach zu gut. Und wenn es - wie jetzt
- nicht mehr nur aufwärts geht, dann jammern wir im Vergleich
immer noch auf einem hohen Niveau. Anders haben es die verfolgten
Christen zur Zeit des Paulus empfunden. Und wie ganz anders werden
es wohl die Mitchristen auf unserer Welt empfinden, die jeden Tag
nicht mehr als das nackte Leben davontragen.
Ich weiß also, dass ich diesen Worten des Paulus ein Stück
von ihrer Schärfe nehme, wenn ich diesen „Tag des Herrn"
nicht im Weltmaßstab, sondern persönlich verstehe, wenn
ich nun also mehr vom Kommen Gottes zu jedem einzelnen von uns rede.
Das Kommen Gottes nicht berechnen wollen
Was könnte das also für dich und mich heißen, den
„Tag des Herrn" nicht zu verdrängen? Wir bekommen
an diesem Tag des Herrn unmissverständlich und unübersehbar
gezeigt, wer der Herr ist. Und das vielleicht aus heiterem Himmel.
1 Von den Zeiten und Stunden aber, liebe Brüder, ist es nicht
nötig, euch zu schreiben; 2 denn ihr selbst wisst genau, dass
der Tag des Herrn kommen wird wie ein Dieb in der Nacht.
Der Zeitpunkt lässt sich nicht berechnen. Gott steht außerhalb
unserer Zeit. Man kann nicht mit ihm planen. Man kann ihn nicht in
den Terminkalender schreiben.
Wenn das nur in der Kirchengeschichte immer ernst genommen worden
wäre! Wie oft haben Gruppen wie die Zeugen Jehovas oder auch
christliche Gemeinschaften das Wiederkommen Gottes berechnen wollen,
und haben sich doch immer neu selbst korrigieren müssen.
Eigentlich solltet ihr, sagt Paulus, das schon aus den Gleichnissen
Jesu wissen. So z.B. im Lukasevangelium: „Wenn ein Hausherr
wüsste, zu welcher Stunde der Dieb kommt, so ließe er nicht
in sein Haus einbrechen. Deswegen: Seid auch ihr bereit." (Lk
12,39)
Der Dieb in der Nacht. Das ist das biblische Bild für das Unberechenbare,
das Unvermutete und Unvorhersehbare.
Ablaufende Zeit und erfüllte Zeit
3 Wenn sie sagen werden: Es ist Friede, es hat keine Gefahr -,
dann wird sie das Verderben schnell überfallen wie die Wehen
eine schwangere Frau, und sie werden nicht entfliehen.
Sie, das sind für Paulus die Menschen, die sich in Sicherheit
wiegen, oder die sagen: Ach, das hat noch Zeit. So alt bin ich doch
noch nicht. Darüber kann ich später immer noch nachdenken.
„Es hat noch Zeit." Die griechische Sprache hat für
das Wort „Zeit" zwei verschiedene Worte: Chronos, das ist
die Zeit, wie sie verläuft, wie man sie mit dem Chrono-Meter,
mit dem Zeit-Messer, messen kann. Und Kairos, das ist der entscheidende
Zeitpunkt, den man nicht messen, sondern den man nur beim Schopf packen
oder auch verpassen kann: Die erfüllte Zeit, die sogenannten
Sternstunden, die Schicksalsstunden, die Lebenswenden, die entscheidenden
Weichenstellungen, oder auch die verpassten Momente, die nicht wiederkommen.
Sein Leben nicht verschlafen
6 So lasst uns nun nicht schlafen wie die andern, sondern lasst
uns wachen und nüchtern sein.
Sein Leben verschlafen. Sie merken, das hat nichts mit dem Schlafen
im wörtlichen Sinn zu tun. Man kann die Nächte durchfeiern,
um ja nichts zu verpassen, und doch das Leben verschlafen. Wer sein
Leben verschläft, wer in den Tag hinein lebt, der wird ein Knecht
des Chronos, dieser unbarmherzig voranschreitenden Zeit.
Wach und nüchtern sein. Auch das ist nicht einfach wörtlich
gemeint. Es zeigt eher einen anderen Umgang mit der Zeit: Wach und
aufmerksam den Kairos, den rechten Moment beim Schopf packen. Nicht
einfach in den Tag hinein leben, sondern aufmerksam jene entscheidenden
Momente, auf die es im Leben ankommt, sehen und ergreifen.
Das Lächeln, das mir gilt, nicht übersehen.
Den Sonnenstrahl, der plötzlich aus der Wolke kommt.
Das Glücksgefühl, irgendwo auf einer sonnigen Bank zu sitzen,
ein gutes Essen zu genießen, eine ergreifende Musik zu hören.
Das momentane Gefühl „Wie gut geht's dir eigentlich!"
bewusst wahrnehmen und nicht gleich wieder vergessen.
Das überraschende Innewerden: Du lebst. Du atmest. Du nimmst
die Welt um dich wahr. Deine Glieder gehorchen dir.
Sich Zeit nehmen, einfach nur der brennenden Kerze nachzusinnen. Oder
dem fallenden Blatt und dem fliegenden Vogel.
Aber auch das andere:
Das deutliche Warnsignal des Körpers nicht übersehen.
Die Mahnung eines lieben Menschen nicht in den Wind schlagen.
Einen Hilfeschrei am Lebensweg nicht überhören oder vor
den hilfesuchenden Augen den Kopf wegzudrehen.
Vielleicht begegnet genau dann Gott. Vielleicht ist das der Tag, der
Moment des Herrn.
1 Von den Zeiten und Stunden aber, liebe Brüder, ist es nicht
nötig, euch zu schreiben; 2 denn ihr selbst wisst genau, dass
der Tag des Herrn kommen wird wie ein Dieb in der Nacht. 6 So lasst
uns nun nicht schlafen wie die andern, sondern lasst uns wachen und
nüchtern sein. |
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