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Die Predigt |
Gelegenheiten ergreifen
oder verpassen
Die sog. „Gelegenheiten" sind es, die unser Leben immer
wieder ausmachen. Nicht die Gelegenheitskäufe, an die manche
vielleicht zuerst denken, sondern die Gelegenheiten, die sich im Lauf
unseres Lebens ergeben. Ge-legen-heiten, so sagt es das Wort, können
wir nicht machen. Sie liegen einfach da: Sie liegen auf einmal vor
den Füßen oder am Wegrand des Lebensweges.
Da gibt es Gelegenheiten, die wir ergreifen, und Gelegenheiten, die
wir verpassen. Es gibt Gelegenheiten, die kommen immer wieder, und
andere, die kommen nur einmal. Es gibt wichtige und entscheidende,
es gibt aber auch unwichtige Gelegenheiten. Manche sind es wert, dass
man ihnen nachtrauert, wenn man sie verpasst hat — andere nicht.
Entscheidende Lebenssituationen sind oft mit Gelegenheiten verbunden,
die man erkannt und dann auch ergriffen hat: Wie man seinen Ehepartner
gefunden hat, vielleicht. Oder als es um die Berufswahl ging oder
das Haus, in dem man lebt; gute Freunde, die man wie zufällig
kennen gelernt hat. Auch eine finanzielle Entscheidung zur rechten
Zeit. Oder auch ein Gang zum Arzt gerade noch im rechten Moment.
Aber auch die sog. kleinen Gelegenheiten, die man – Gott sei
Dank – nicht verpasst hat: ein tröstendes Wort zur rechten
Zeit, eine Bitte um Verzeihung, eine Umarmung.
Verpasste Gelegenheiten
Und ebenso lebensentscheidend sind oft die verpassten Gelegenheiten.
Die Gelegenheiten, die wir nicht oder zu spät erkannt haben.
Die Gelegenheiten, die wir haben verstreichen lassen: „Wenn
ich das gewusst hätte!" „Wenn ich das doch früher
geahnt hätte!" „Wenn ich da doch besser aufgepasst
hätte!“
Manche dieser Gelegenheit kommen – Gott sei Dank – noch
einmal und wir können nachholen, was wir versäumt haben.
Doch es gibt auch welche, die kommen nicht wieder: Man hat verpasst,
mit einem Menschen etwas in Ordnung zu bringen, bevor er starb. Oder
es unterblieb die Versöhnung zur rechten Zeit, und nun ist ein
Verhältnis unwiederbringlich zerstört. Oder manche müssen
gar hören, dass man ihnen noch hätte helfen können,
wenn sie ein Vierteljahr früher zum Arzt gegangen wären.
Gelegenheiten, die wir ergriffen haben. – Gelegenheiten, die
wir verpasst haben. Wenn Sie heute über den Lauf des zu Ende
gehenden Jahres nachsinnen, werden Sie sich vielleicht an solche Gelegenheiten
erinnern. Heute ist die Möglichkeit, Bilanz zu halten: Was ist
unwiederbringlich vorbei gegangen? Was kann noch in Ordnung gebracht
werden?
Was wirklich unwiederbringlich vorbei ist, muss ich akzeptieren. Es
ist nicht gut, seelische Kraft zu investieren, wo etwas nicht mehr
geändert werden kann. Es lähmt nur, Neues anzupacken. Wenn
durch das Versäumnis Schuld entstanden ist, dann ist heute in
der Beichte der Raum, diese Schuld anzusprechen und im Abendmahl zu
hören: „Es ist alles wieder gut." Und wenn Schuld
mit einem konkreten Menschen zu tun hat, dann ist es nie zu spät,
auf ihn zuzugehen.
Wachsamkeit für die Gelegenheiten
Ganz gewiss wird dieses neue Jahr wieder Gelegenheiten und Chancen
mit sich bringen. Sie fordern von uns Bereitschaft und Wachsamkeit.
Sie warten darauf, ergriffen zu werden. Das entdecke ich im heutigen
Predigttext, den Sie vorhin schon als Evangelium gehört haben.
In zwei Gleichnissen versucht Jesus zu erklären, wie solche Bereitschaft
aussieht:
Zuerst erzählt Jesus aus der damaligen Lebenswirklichkeit von
einem Mann, der zu einem Fest eingeladen ist. Niemand weiß,
wie lange sich die Feier hinziehen wird, und wann er wieder nach Hause
kommt. Von den Knechten des Hauses, vom Gesinde, wurde erwartet, dass
sie rechtzeitig und dienstbereit zur Stelle sind, egal, wann der Hausherr
heimkommt. Ihre Lenden sollen umgürtet sein. D.h. ihr langes
Alltagsgewand soll an den Hüften zusammengebunden sein, damit
sie jederzeit gehen und arbeiten können. Ihre Lampen sollen brennen,
damit sie ihre Arbeit tun und auch den Hausherrn empfangen und ins
Haus geleiten können.
Der „Hausherr": Da haben die Hörer bei Jesus natürlich
die Ohren gespitzt. Sie haben verstanden: Das ist nicht einfach nur
eine Geschichte aus dem Lebensalltag, sondern das hat auch etwas mit
Gott zu tun. Ganz überraschend kann er, der Hausherr dieser Welt
und meines Lebens, bei mir anklopfen. Und dann ist die Frage, ob ich
bereit bin.
Und dann noch das andere Gleichnis: Jeder, der ein Haus besitzt, muss
damit rechnen, dass vielleicht einmal gewaltsam bei ihm eingebrochen
wird. Wie nun? Lässt er sich von dieser Angst lähmen? Oder
behält er sich die notwendige Gelassenheit, und findet den nötigen
Mittelweg zwischen nüchterner Wachsamkeit und Angst?
Gott klopft an
Ganz überraschend kann Gott an deiner Lebenstür anklopfen,
sagt Jesus mit seinen Gleichnissen. Vielleicht sogar gewaltsam wie
ein Einbrecher in der Nacht. „Es kann vor Nacht leicht anders
werden, als es am frühen Morgen war." so heißt es
in einem Lied. Er will damit zwar aufrütteln, aber er will keine
Angst machen. Eine Begegnung mit Gott, und wenn sie noch so überraschend
ist, ist immer heilsam. So haben die Hörer wohl auch bei einem
anderen Satz der Geschichte damals die Ohren gespitzt:
37 Selig sind die Knechte, die der Herr, wenn er kommt, wachend
findet. Wahrlich, ich sage euch: Er wird sich schürzen und wird
sie zu Tisch bitten und kommen und ihnen dienen.
Da passt das Gleichnis nicht mehr, denn das hätte damals kein
Hausherr gemacht: seine Sklaven bedienen. Und spätesten da merken
die Zuhörer: Jesus erzählt nicht wirklich aus dem Alltag.
Er erzählt von Gott, dem Herrn, der ganz überraschend und
auch anders handelt als die Herren dieser Welt. Gott, der uns nicht
in erster Linie als Richter, sondern als Heiland begegnet.
Sehen wir es durchaus als heilsam und als Chance an, wenn Gott im
kommenden Jahr bei uns anklopfen sollte. Anklopfen: Bildlich wie im
Gleichnis. Es ist auf jeden Fall zum Heil und zum Guten.
Gott klopft bei uns an. Bleiben wir noch ein wenig bei dieser bildlichen
Rede:
Von der Alten, die auf Gott wartete
Es war einmal eine alte Frau, der hatte der liebe Gott versprochen,
sie heute zu besuchen. Darauf war sie nun natürlich nicht wenig
stolz. Sie scheuerte und putzte, buk und tischte auf. Und dann fing
sie an, auf den lieben Gott zu warten.
Auf einmal klopfte es an die Tür. Geschwind öffnete die
Alte, aber als sie sah, dass draußen nur ein armer Bettler stand,
sagte sie: „Nein, in Gottes Namen, geh heute deiner Wege! Ich
warte eben gerade auf den lieben Gott, ich kann dich nicht aufnehmen!"
Und damit ließ sie den Bettler gehen und warf die Tür hinter
ihm zu.
Nach einer Weile klopfte es von neuem. Die Alte öffnete diesmal
noch geschwinder als beim ersten Mal. Aber wen sah sie draußen
stehen? Nur einen armen alten Mann. „Ich warte heute auf den
lieben Gott. Wahrhaftig, ich kann mich nicht um dich kümmern!"
Sprach's und machte dem Alten die Tür vor der Nase zu.
Abermals eine Weile später klopfte es von neuem an die Tür.
Doch als die Alte öffnete - wer stand da, wenn nicht schon wieder
ein zerlumpter und hungriger Bettler, der sie inständig um ein
wenig Brot und um ein Dach über dem Kopf für die Nacht bat.
„Ach, lass mich in Ruhe! Ich warte auf den lieben Gott! Ich
kann dich nicht bei mir aufnehmen!" Und der Bettler musste weiterwandern,
und die Alte fing aufs Neue an zu warten.
Die Zeit ging hin, Stunde um Stunde. Es ging schon auf den Abend zu,
und immer noch war der liebe Gott nicht zu sehen. Die Alte wurde im¬mer
bekümmerter. Wo mochte der liebe Gott geblieben sein?
Zu guter Letzt musste sie betrübt zu Bett gehen. Bald schlief
sie ein. Im Traum aber erschien ihr der liebe Gott. Er sprach zu ihr:
„Dreimal habe ich dich aufgesucht, und dreimal hast du mich
hinausgewiesen!"
Von diesem Tage an nehmen alle, die von dieser Geschichte erfahren
haben, alle auf, die zu ihnen kommen. Denn wie wollen sie wissen,
wer es ist, der zu ihnen kommt? Wer wollte denn gern den lieben Gott
von sich weisen?
(Die Alte, die auf Gott wartete, Hoffsümmer Bd. 1, Nr. 8)
Wachsam leben
Diese Geschichte soll nicht lähmen: Das würde sie, wenn
man nun hinter jedem Menschen und hinter jedem Ereignis, das auf einen
zu kommt, krampfhaft nach Gott Ausschau halten würde. Man könnte
seine tägliche Arbeit nicht mehr tun. Man würde dauernd
nur Dinge und Menschen ängstlich anstarren: Hoffentlich habe
ich nichts verpasst!
Der Hausherr in Jesu Gleichnis erwartet ja nicht, dass die Bediensteten
alle mit gespitzten Ohren ängstlich hinter dem Hoftor in den
Startlöchern sitzen, um ihn ja mitten in der Nacht nicht zu verpassen.
Nein, sie sollen ihre Arbeit tun, für die sie im Haus zuständig
sind. Ein jeder und eine jede an ihrem Platz. Aber sie sollen über
dieser Arbeit und inmitten all dieser Alltagserledigungen wache Augen
und wache Ohren und wache Herzen für überraschende Begegnungen
und Gelegenheiten behalten.
Genauso braucht Gott uns im Alltag an den Orten, wo wir leben und
arbeiten. Aber er schenke uns immer wieder neu die wache Bereitschaft,
die damit rechnet, dass er uns mitten in diesem Alltag begegnen kann:
in einem Ereignis oder in einem Menschen. Er begegnet uns. Er ruft
uns auf, die Arbeit zu unterbrechen. Er ruft uns heraus.
Er schenke uns auch, dass wir dann diese Gelegenheiten nicht verpassen,
sondern beherzt ergreifen. |
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