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Die Predigt |
Erinnerungen werden
wieder wach
Die Älteren unter Ihnen sind heute vielleicht auch hierher gekommen,
um etwas zum Volkstrauertag zu hören. So steht es ja für
heute in den meisten weltlichen Kalendern. Volkstrauertag, Gedenktag
der im Krieg Gefallenen. Bei manchen kommen Erinnerungen hoch: bei
denen, die im Krieg aufgewachsen sind, vielleicht selbst im Krieg
waren; bei denen, die neben sich Freunde und Gefährten haben
sterben sehen; bei denen, die Männer, Brüder oder Väter
in diesem Krieg verloren haben, die ihren Vater vielleicht gar nicht
kennen gelernt haben.
1923 wurde im Anschluss an den ersten Weltkrieg der Volkstrauertag
geschaffen. Die Nationalsozialisten benannten ihn um in „Heldengedenktag“
und wollten die Menschen auf ein neues kriegerisches Heldentum einstimmen.
1952 erhielt dieser Tag seinen ursprünglichen Namen „Volkstrauertag“
zurück. Seitdem wird an diesem Tag all derer gedacht, die in
beiden Weltkriegen haben sterben müssen, als Soldaten und in
der Zivilbevölkerung, und auch all derer, die unter den Nationalsozialisten
umkamen, seien es Juden, Kommunisten, Jehovas Zeugen, Sinti und Roma
oder Homosexuelle gewesen. Als Tag der Mahnung wird der Volkstrauertag
begangen: der Mahnung, dass so etwas um Gottes Willen nie wieder sein
darf.
Sonntag vom Weltgericht
Gegenüber dem, was in den weltlichen Kalendern steht, tritt die
kirchliche Bedeutung dieses vorletzten Sonntages im Kirchenjahr leicht
zurück. Sonntag vom Weltgericht, Sonntag vom Jüngsten Gericht
heißt der heutige Tag. Einmal im Jahr werden wir ganz bewusst
daran erinnert, dass wir alle einmal vor Gott Rechenschaft werden
ablegen müssen für unser Tun und Lassen.
Volkstrauertag und Sonntag vom Weltgericht. Wie bringen wir beides
zusammen? Vielleicht durch den Predigttext für den heutigen Tag.
So sagt der Prophet Jeremia den Menschen damals im Auftrag Gottes
weiter:
4 So spricht der HERR: Wo ist jemand, wenn er fällt, der
nicht gern wieder aufstünde? Wo ist jemand, wenn er irregeht,
der nicht gern wieder zurechtkäme? 5 Warum will denn dies Volk
zu Jerusalem irregehen für und für? Sie halten so fest am
falschen Gottesdienst, dass sie nicht umkehren wollen. 6 Ich sehe
und höre, dass sie nicht die Wahrheit reden. Es gibt niemand,
dem seine Bosheit leid wäre und der spräche: Was hab ich
doch getan! Sie laufen alle ihren Lauf wie ein Hengst, der in der
Schlacht dahinstürmt. 7 Der Storch unter dem Himmel weiß
seine Zeit, Turteltaube, Kranich und Schwalbe halten die Zeit ein,
in der sie wiederkommen sollen; aber mein Volk will das Recht des
HERRN nicht wissen.
Ein verlachter Weltuntergangsprophet
Ich versuche mir den Propheten Jeremia vorzustellen, damals, ein paar
Jahre vor dem Zusammenbruch des Reiches Israel und der Zerstörung
Jerusalems. Ein einsamer Mahner ist er zeitlebens geblieben. Ausgelacht
hat man ihn mit seinen Warnungen und Ankündigungen. Er war einer
von denen, wo man gleich stöhnt:: „Ach, der schon wieder.“
Erst im nachhinein hat man erkannt, dass man auf ihn hätte hören
sollen. Es ging den Menschen gut. So gut zumindest, dass sie in ihrer
Mehrheit ihren Gott und seine Gebote, speziell die Gerechtigkeit in
der Gesellschaft, vergessen haben. Sicher, es gab politische Spannungen.
Der Eroberungszug der Babylonier unter ihrem König Nebukadnezar
kam Israel immer näher. Aber man hat darüber hinweggesehen
im Vertrauen auf die eigene militärische Stärke und die
der Verbündeten.
Die Zeichen der Zeit erkennen
Jeremia steht am Tempel, dort wo die meisten Leute vorbeikommen und
fängt ganz harmlos an: „Ihr seht doch die Vögel dort
am Himmel: Störche, Tauben, Kraniche, Schwalben. Ihr wisst, dass
sie jedes Jahr über uns hinwegfliegen. Ihr wisst: Sie kommen
aus dem Norden, aus Europa, und wenn es dort kalt wird, fliegen sie
los nach Süden, über uns hinweg nach Afrika. Das wiederholt
sich jedes Jahr. Die Vögel wissen, wann es Zeit ist, aufzubrechen
und umzukehren. Täten sie es nicht, würden sie umkommen."
„Was soll das? Will er uns heute wohl Biologieunterricht halten",
haben die Umstehenden vielleicht gespottet und erst einmal nicht verstanden,
was der schrullige Gottesmann von ihnen wollte.
Jeremia weiter: „Noch etwas anderes will ich euch fragen: Wenn
einer von euch hinfällt - das kann ja mal passieren -, steht
er dann nicht sofort wieder auf und bleibt nicht im Dreck liegen?
Oder: Wenn jemand von euch sich verläuft, bleibt er dann nicht
sofort stehen, sobald er es merkt und kehrt um, um den richtigen Weg
zu suchen?“
„Klar doch“, haben die Leute vielleicht gerufen, „was
erzählst du uns das überhaupt? Das ist doch alles selbstverständlich.“
Wie mit Scheuklappen
Und dann sagt Jeremia, worum es ihm geht: „Bei euch ist das
alles anscheinend nicht selbstverständlich: Ihr seid auf dem
falschen Weg und wollt es nicht wahrhaben. Ihr merkt nicht, wann es
Zeit ist, umzukehren wie die Vögel. Wer von Euch seine Augen
aufmacht, müsste sehen, wo es hingeht, politisch und auch gesellschaftlich.
Für Gott, seine Gebote und für eure Mitmenschen habt ihr
kein Auge mehr. Ihr lebt in den Tag hinein und denkt: „Es wird
schon gut gehen.“ Keiner denkt über seinen falschen Weg
nach. Keiner will einsehen und zugeben, dass es so nicht mehr lange
weitergehen kann. Wie ein Pferd mit Scheuklappen rennt ihr stur geradeaus.
Gott weiß nicht, was er mit eurer Sturheit und Blindheit anfangen
soll. So viele deutliche Zeichen hat er euch schon gegeben und ihr
wollt nicht hören. Wenn es dann zu spät ist, werdet ihr
kommen und schreien: Wie kann Gott das zulassen? Gibt es überhaupt
einen Gott?"
Warum habt ihr mitgemacht?
Die, für die heute der Volkstrauertag im Mittelpunkt steht, und
die sich an die Ereignisse im Dritten Reich erinnern, werden diesen
Text vielleicht mit ganz bestimmten Ohren gehört haben: Hat nicht
auch damals ein Regime sich so ähnlich verhalten wie es auch
Jeremia kritisiert? Ist es nicht ebenso geradeaus gestürmt gegen
alle Vernunft und gegen alle Anzeichen eines bösen Endes? Hat
es nicht einen Großteil des Volkes mit hineingerissen in diesen
Sog?
Ein ganzes Volk war in Bewegung. Aber wenn es um die Verantwortung
geht, kann sich niemand hinter anderen verstecken. Wie beim Gleichnis
vom Weltgericht ist dann nach dem Krieg mancher gefragt worden: Warum
hast du mitgemacht? Warum hast du nicht widersprochen? Was wusstest
du damals schon? Hast du vielleicht auch wie mit Scheuklappen nicht
sehen wollen? Und manche, wie z.B. beim Schriftsteller Günter
Grass geschehen, holen diese Fragen 60 Jahre später noch ein.
Augen zu und durch?
Menschen, die damals nicht gelebt haben, sollen sich hüten, ein
Urteil zu fällen, weil sie nicht wissen, wie sie damals gehandelt
hätten. Und wir müssen als Christen auch immer wieder der
Versuchung widerstehen, mit dem Finger auf andere zu zeigen. Viel
wichtiger ist in einem Gottesdienst und beim Hören eines solchen
Bibelwortes: Inwiefern könnten wir, könnte ich heute betroffen
sein?
Gleichen wir vielleicht auch den Menschen damals in Jerusalem, die
Scheuklappen auf hatten und immer geradeaus rannten trotz aller Anzeichen
und Vorboten? Scheuklappen hat man den Pferden im Krieg neben die
Augen gesetzt, damit sie nicht sehen, was rechts und links geschieht
und dann vielleicht ihren Dienst verweigern.
Sie laufen alle ihren Lauf wie ein Hengst, der in der Schlacht
dahinstürmt.
Übersehen oder verpassen wir vielleicht auch den rechten Zeitpunkt
zum Umkehren?
7 Der Storch unter dem Himmel weiß seine Zeit, Turteltaube,
Kranich und Schwalbe halten die Zeit ein, in der sie wiederkommen
sollen; aber mein Volk will das Recht des HERRN nicht wissen.
Wollen wir vielleicht vor lauter Stolz auch nicht eingestehen, dass
wir auf einem falschen Weg sind?
Wo ist jemand, wenn er fällt, der nicht gern wieder aufstünde?
Wo ist jemand, wenn er irregeht, der nicht gern wieder zurechtkäme?
5 Warum will denn dies Volk irregehen für und für?
Heute die Zeichen der Zeit erkennen
Was könnten in der heutigen Zeit solche Entwicklungen sein?
Gestern sind die Ergebnisse des Weltklimaberichtes veröffentlicht
worden. Danach schreitet die Erderwärmung noch rasanter fort
als gedacht. „Furchterregend wie in einem Science-Fiction-Film“
seien die zu erwartenden Folgen.
Oder die Verteilung von Reichtum und Armut in unserer Gesellschaft:
Anfang November haben wir gehört, dass 10 Prozent der Bundesbürger
zwei Drittel des ganzen Vermögens gehört und dass 50 Prozent
überhaupt keine Ersparnisse haben und sozusagen von der Hand
in den Mund leben. Welcher gesellschaftliche Sprengstoff kann sich
da entwickeln?
Oder die zunehmende Beteiligung Deutschlands an kriegerischer Auseinandersetzungen.
Wie tief könnten wir da noch hineinrutschen und wo geht es hin?
Wer weiß, wo wir in den kommenden Jahren einmal selbstkritisch
fragen werden: Warum haben wir die Zeichen der Zeit nicht früh
genug erkannt? Beziehungsweise: Die Fakten standen in jeder Zeitung.
Warum haben wir keine Konsequenzen gezogen?
Und wenn wir nicht selbst fragen, vielleicht fragen uns einmal unsere
Kinder und Enkel: Wir konntet ihr damals nur ...?
Und dann wird es sein wie beim Gleichnis vom Weltgericht. Wir werden
uns nicht herausreden können mit dem Hinweis auf die Gesellschaft:
Na, ja, das war halt damals so. Was hätte man denn als Kleiner
tun können? Die Politiker hatten das Sagen. Nein, wir werden
jeder Einzelner uns rechtfertigen müssen.
Oder vielleicht treffen uns diese warnenden Worte, dass wir die Anzeichen
nicht übersehen und einfach mit Scheuklappen voranstürmen
sollen, auch ganz persönlich, z.B. im gesundheitlichen Bereich.
Das merkt jemand irgendwelche Anzeichen. Das weiß jemand, dass
er eigentlich ungesund lebt. Da spürt jemand, dass er umkehren
müsste. Aber er zieht keine Konsequenzen.
„Lass uns in deinem Namen, Herr, die nötigen Schritte tun.
Gib uns den Mut, voll Glauben, Herr, heute und morgen zu handeln.“
Amen |
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